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Tabuthema: Gewalt im Alter
Aus Rendez-vous vom 02.04.2019. Bild: Colourbox
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Tabuisierte Gewalt gegen Alte Der alltägliche Horror in den eigenen vier Wänden

Wenn der Sohn die demente Mutter schlägt, schauen viele weg. Eine Frau tat es nicht. Eine Geschichte über Zivilcourage.

Am Anfang waren die Schreie in einer Sommernacht. Die junge Frau schreckt deshalb auf. Die Schreie stammen von einer 85-jährigen dementen, pflegebedürftigen Frau im Haus nebenan, die mit ihrem Sohn zusammenwohnt.

Kurze Zeit später sieht die junge Frau von ihrem Fenster aus, was sich in der Wohnung gegenüber zuträgt: «Der Sohn schlug und würgte die Mutter. Ich war völlig schockiert, dass so etwas so nahe bei mir passiert, mit einem Menschen, der liebenswürdig auf mich gewirkt hat.»

Das Opfer wiegelt ab

Ihr sei bewusst geworden, dass sich die alte Frau nicht wehren konnte und wollte: «Sie liess alles über sich gehen.» Für die junge Frau ist klar: Sie kann sich nicht wieder schlafen legen und so tun, als sei nichts gewesen. Sie benachrichtigt die Polizei. Diese kommt, die alte Frau erklärt, es sei bloss ein Streit gewesen.

Anlaufstelle «Alter ohne Gewalt» lanciert

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Geschlagen, getreten, bedroht oder vernachlässigt: In der Schweiz erleben schätzungsweise 300'000 ältere, pflegebedürftige Menschen Gewalt. Jede fünfte Person ist über 65.

Gewalt verüben oft Partner oder die eigenen Kinder. Die Plattform «Alter ohne Gewalt» soll dagegen helfen. über eine Telefonnummer bekommen die Betroffenen ab heute rasche Hilfe und Beratung.

Die junge Frau macht Meldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb). Für eine Weile kehrt Ruhe ein. Dann: «Nach ein paar Wochen habe ich die Dame am Fenster stehen sehen. Ihr ganzes Gesicht war blau geschlagen.» Wieder Meldung an die Polizei, die alte Frau wiegelt wieder ab, spricht von einem Sturz.

Der Sohn war Täter und vom Schicksal gebeuteltes Opfer.
Autor: Albert Wettstein Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter (UBA)

Dann wird die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter (UBA) eingeschaltet. Albert Wettstein übernimmt den Fall. Er war 28 Jahre lang Zürcher Stadtarzt. Nach seiner Pensionierung begann sein ehrenamtliches Engagement für die UBA. Den vorliegenden Fall bezeichnet der 72-Jährige als «krass».

Dass die demente Frau nicht die Wahrheit gesagt hat, erstaunt ihn nicht: «Ich habe viele Fälle von häuslicher Gewalt gesehen, bei denen Täter und Opfer danach friedlich nebeneinander auf dem Sofa sitzen.» Demente würden vergessen, und oft sei der Täter der Sohn oder Ehemann, den man ja gern habe. Wenn sich diese aber übelste psychische und physische Entgleisungen leisteten, müsse man handeln.

Für die alte Frau wurde ein Heimplatz gesucht. Wettstein beschreibt den gewalttätigen Sohn als «Täter und vom Schicksal gebeuteltes Opfer. Er war vollkommen überfordert.» Wenn man als 50-Jähriger plötzlich eine demente Mutter pflegen müsse, sei das enorm schwierig: «Er sah nicht ein, dass er Hilfe braucht.»

Wettstein sagt, wenn jemand allein einen demenzkranken Menschen betreue, werde er entweder selber krank oder gewalttätig. Und er räumt auf mit der landläufigen Meinung, Gewalt gegen alte Menschen gebe es vor allem in Pflegeheimen: «Dort ist die Gefahr viel geringer, weil soziale Kontrolle herrscht.»

Zunahme häuslicher Gewalt

Im Gegensatz zur Pflege daheim, wo die meisten Alten solange als möglich bleiben möchten, wo die Dunkelziffer gross sei: «Die Gewalt gegen ältere Menschen hat zugenommen, weil es mehr ältere Menschen gibt.» Die Belastung für deren Kinder oder Ehepartner sei gross, manchmal zu gross.

Deshalb, so der Demenz-Fachmann, sei es wichtig, dass die Pflege zuhause auf verschiedene Schultern verteilt werde und man Profis wie die Spitex beiziehe: «Das ist der Schlüssel.»

Ich würde den Fall wieder melden. Es gibt Menschen, die sich nicht selbst helfen können.
Autor: Zeugin häuslicher Gewalt

Die alte Frau ist mittlerweile in einem Heim. «Der Sohn erhielt von der Polizei ein Rayon-Verbot, wie das üblich ist. Die Kesb bot ihm eine Beratung an.» Ob der Sohn bestraft wird, entzieht sich Wettsteins Kenntnis. «Entscheidend ist, dass der Frau geholfen wurde.»

Dank der jungen Frau, die nicht weggehört und weggeschaut hat. Sie würde es wieder tun: «Auf jeden Fall. Es gibt Menschen, die sich nicht selbst helfen können. Und sie brauchen solche Hilfe.» Solcher Hilfe sagt man Zivilcourage.

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