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Todesfall durch Polizisten Morges: Kritik an Staatsanwaltschaft wegen Verfahrenseinstellung

Vor zwei Jahren hat ein Polizist in Morges einen Mann getötet. Die Familie des Getöteten kritisiert die Waadtländer Staatsanwaltschaft. Diese will das Verfahren einstellen.

Evelyne Wilhelm ist die Schwester jenes Mannes aus Zürich, der Ende August 2021 am Bahnhof Morges (VD) sein Leben verloren hat. Dass die Waadtländer Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen Tötung einstellen will, ist für sie ein Schock.

Das ist aber noch nicht alles: Der Anwalt der Familie hatte auch eine Erweiterung des Verfahrens auf unterlassene Hilfeleistung gefordert. Darauf will der Staatsanwalt aber nicht eintreten, wie er den Parteien schriftlich angekündigt hat.

Kommission präsentiert Untersuchungsergebnisse

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Eine Expertenkommission, die im Mai eingesetzt worden war, um die Umstände des Todes eines Schwarzen zu klären, hat in Lausanne die vorläufigen Ergebnisse ihrer Untersuchung vorgestellt. Sie hielt fest, dass der Mann verletzt sechseinhalb Minuten lang auf dem Bauch liegengelassen worden sei, ohne dass die beteiligten Polizisten Hilfe geleistet hätten.

Ein vor den Medien gezeigter Kurzfilm rekonstruiert acht Minuten lang die Ereignisse vom 30. August 2021 auf dem Perron 4 des Bahnhofs Morges, als die Polizisten den 38-jährigen Zürcher anschossen. Gemäss den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hatte der Mann, der unter psychischen Problemen litt, die Polizisten zuvor auf dem Bahnsteig mit einem Messer bedroht. Der Mann verstarb noch am Tatort an den Schussverletzungen. (sda)

Das wiegt für Evelyne Wilhelm fast noch schwerer: «Man sieht, wie sie einfach herumstehen, ihn mit Füssen untersuchen und ihn einfach dort verbluten lassen. Er stirbt dort, auf dem Bahnsteig in Morges. Und niemand hat ihm geholfen.»

Polizist spricht von Notwehr

Eine Begründung der Staatsanwaltschaft, warum sie den Fall zu den Akten legen will, liegt noch nicht vor. Der Polizist, der die tödlichen Schüsse abgegeben hat, spricht von Notwehr, das geht aus den Verfahrensakten hervor: Weil der Mann bedrohlich auf ihn zugerannt sei – mit einem Messer in der Hand.

Dass der Fall von Morges aussergewöhnlich ist, zeigt auch das Vorgehen der Familie. Sie hat eine eigene Expertenkommission ins Leben gerufen. Und auch unabhängige Forensiker in Genf damit beauftragt, den Fall minutiös nachzuzeichnen.

Neue Beweismittel eingereicht

Die Szenen und Funksprüche der Polizisten wurden in einem Video zusammengefasst, das den Journalisten nun abgespielt wurde. Die Bilder zeigen, dass dem sterbenden Mann minutenlang keine Hilfe geleistet wird.

Die Zusammenstellung wurde als neues Beweismittel der Staatsanwaltschaft überreicht, verbunden mit der Forderung, die Untersuchung weiterzuführen.

Genau das ist die Kapitulation des Rechtsstaates.
Autor: Philip Stolkin Zürcher Anwalt

Auch Philip Stolkin, ein Zürcher Anwalt, war Teil der Kommission (siehe Box). Für ihn wiegen die Beweise so schwer, dass der Staatsanwalt nicht einstellen dürfe. «Und dennoch stellt er ein, und noch mehr: Er entscheidet eine Nichtanhandnahmeverfügung nach dem Motto: Es war ja nichts. Und genau das ist die Kapitulation des Rechtsstaates.»

Wir möchten wissen, was wirklich passiert ist. Es gibt noch so viele Fragezeichen.
Autor: Evelyne Wilhelm Schwester des Getöteten

Der Fall müsse vor Gericht, fordern Anwalt, Familie und Kommission. Das sei auch für sie wichtig, sagt Evelyne Wilhelm: «Er ist auch öffentlich gestorben. Wir möchten wissen, was wirklich passiert ist. Es gibt noch so viele Fragezeichen.»

Fragen, die ohne einen Prozess wohl nie geklärt würden. Die Waadtländer Staatsanwaltschaft hat am Freitag schriftlich bestätigt, dass weitere Beweismittel eingereicht wurden. Sie nahm zu den Vorwürfen aber keine Stellung und entscheidet später, ob im Fall Morges ein Schlussstrich gezogen wird oder nicht.

Info 3, 10.11.2023, 17:00 Uhr

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