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Trotz Suizidgefahr Asylsuchende: von der Psychiatrie in die Ausschaffung

Behörden in Kritik: Bern muss umstrittene Praxis überprüfen. Asylsuchende werden aus psychiatrischen Kliniken abgeholt.

Um was geht es? Es geht um Asylsuchende, die schwere psychische Probleme haben und zum Teil suizidal sind. Obschon in stationärer Behandlung, werden sie von der Polizei abgeholt. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber Fachpersonen sprechen schweizweit von mehreren Fällen pro Jahr – vor allem in der Deutschschweiz. Die Betroffenen werden meist in andere EU-Länder gebracht, wo sie zuvor Asyl beantragten haben oder dort in den EU-Raum eingereist sind.

Hinter einem Gitter ist ein Flugzeug zu sehen.
Legende: Von der Psychiatrie direkt ins Flugzeug: Die Schweiz schafft auch traumatisierte Asylsuchende aus. Keystone/Martin Ruetschi

Was wird kritisiert? Asylorganisationen kritisieren fehlende Verhältnismässigkeit und mangelnde medizinische Versorgung. Problematisch sei, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Patienten und Klinikpersonal missbraucht werde und Polizeieinsätze andere Patientinnen verunsichern könnten.

Welcher Fall ist exemplarisch? Der Fall einer afghanischen Mutter mit ihren zwei Kindern und deren Grossmutter. Nach ihrer Flucht kommen sie 2022 in die Schweiz. Wegen psychischer Probleme muss zuerst die Grossmutter, später auch die Mutter in die Psychiatrie. Die Mutter wird nach einem Suizidversuch in der UPD Bern behandelt. Im März 2023 holt die Polizei sie mitten in der Nacht in der Klinik ab und bringt sie zum Flughafen Zürich. Dort warten ihre Kinder und die Grossmutter auf den Ausschaffungsflug. In WhatsApp-Nachrichten beschreibt die Frau ihre Verzweiflung. Für Jürg Schneider, der sich in der Aktionsgruppe Nothilfe ehrenamtlich für Asylsuchende engagiert und die Familie mitbetreut, ist der Vorgang in der Klinik «ein Schock».

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Legende: Viel Polizei und weinende Menschen: Ein Kind der afghanischen Familie verarbeitet die Aussschaffung bildlich. zvg

Gibt es noch weitere Fälle? Jürg Schneider von der Berner Aktionsgruppe kennt weitere. Auch Anwältin Elena Liechti von der Organisation Asylex betreut mehrere Fälle, unter anderem in den Kantonen Bern, Thurgau und Zürich. Sie kritisiert, dass die Verhältnismässigkeit solcher Aktionen nicht ausreichend geprüft werde. Auch der Psychiater Patrick Weihs, Präsident der Bernischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, kennt weitere Fälle und hält das Vorgehen für «befremdend». Er betont, dass die Betroffenen sich in einer Notlage befänden und schliesst aus, dass sie ihre Symptome nur vortäuschten.

Was sagen die Behörden? Der Kanton Bern betont, der Gesundheitszustand werde sorgfältig geprüft und die Aktionen erfolgten in Absprache mit den Kliniken. Man stehe unter Druck, da die sogenannten Dublin-Fälle innerhalb von 6 Monaten vollzogen werden müssten. Eine medizinische Fachperson sei jeweils dabei. Das Staatssekretariat für Migration verweist auf die Zuständigkeit der Kantone für den Vollzug und weist darauf hin, dass alle Betroffenen einen rechtskräftigen Wegweisungsentscheid erhalten hätten.

Haus
Legende: Unter anderem aus den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern wurden Personen ausgeschafft. Keystone/Peter Schneider

Die betroffenen psychiatrischen Kliniken äussern sich aus Datenschutzgründen nicht. Die Zusammenarbeit mit den Behörden entspreche den gesetzlichen Vorgaben. Der Präsident der Bernischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie kritisiert den zunehmenden Druck der Behörden. Er plädiert dafür, mit Rückführungen zu warten, bis sich der Gesundheitszustand gebessert hat.

Wie geht es weiter? Der Fall der afghanischen Familie hat Folgen: Der Kanton Bern muss die Verhältnismässigkeit der Ausschaffung überprüfen. Dies geht aus einem Urteil des bernischen Verwaltungsgerichts hervor. Die Familie befindet sich derzeit noch in Europa. Laut Betreuern hat sich der Gesundheitszustand der beiden Frauen stabilisiert, ihre Zukunft bleibt jedoch ungewiss.

Regionaljournal Bern, Freiburg, Wallis, 10.7.2025, 6:30 Uhr;swam;gygm;liea

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