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Umstrittene Strafbefehle Die Macht der Staatsanwälte

Die meisten Haftstrafen in der Schweiz sind kürzer als 6 Monate. In solchen Fällen kann der Staatsanwalt eine Abkürzung nehmen – und ein Strafverfahren mit einem Strafbefehl beenden, ohne Gerichtsprozess. Das mag effizient sein, in der Praxis aber ist es problematisch.

In der Schweiz nennt man die unbedingte Freiheitsstrafe meist «Peine privative de liberté sans sursis». Die Mehrheit der unbedingten Freiheitsstrafen wird nämlich in der Romandie verhängt.

An erster Stelle liegt die Waadt. Der Kanton zählt 9 Prozent der Schweizer Bevölkerung, verhängt aber 30 Prozent aller unbedingten Freiheitsstrafen. Der Waadtländer Generalstaatsanwalt Eric Cottier hat nach eigenen Angaben keine Zeit für ein Interview, erklärt dazu aber schriftlich: «Tatsache ist, dass sich der Kanton Waadt einem Anstieg der Kriminalität gegenübersieht. Die kriminalpolitische Antwort darauf bestand in der Verhängung von Haftstrafen.»

Die Schweizer Kriminalstatistik gibt ihm recht: Die Straftaten nahmen in der Waadt in den letzten Jahren zu – von 7 auf 10 Prozent aller Delikte im Land. Die Antwort der Justiz war überdeutlich: Sie verdoppelte die unbedingten Gefängnisstrafen.

3000 Personen zu unbedingter Freiheitsstrafe verurteilt

Generalstaatsanwalt Cottier schreibt diesbezüglich: «Die Drohung, im Wiederholungsfall eine Geldstrafe bezahlen zu müssen, scheint uns bei einem Grossteil der Delinquenten völlig ungeeignet, um sie von neuen Straftaten abzuhalten. Das jedenfalls ist unsere Vision.»

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Eine Vision – mit der Konsequenz, dass die Waadt jährlich 3000 Personen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Wobei die Staatsanwaltschaft Strafen bis zu einem halben Jahr selbst verhängen kann, mit einem sogenannten Strafbefehl. Eigentliche Gerichtsurteile gibt es noch bei weniger als einem Fünftel der Delikte.

Problematische Strafbefehle

Der Appellationsrichter und Berner Strafrechtsprofessor Jonas Weber warnt, dass die Justiz ein Problem mit den Strafbefehlen hat: «Es ist eben relativ selten, dass gegen einen Strafbefehl Einsprache erhoben wird. Und es gibt einige empirische Studien die belegt haben, dass es unter den nicht angefochtenen Strafbefehlen viele Fehlurteile gibt.»

Die Arbeit der Staatsanwälte ist schwer zu kontrollieren. Das zeigt sich auch im Fall von Genf. Dort ist Olivier Jornot Generalstaatsanwalt. Auch er lehnt eine Interviewanfrage ab. Aber auf seiner Homepage nennt er als seine Bilanz, die Steigerung der Festnahmen um 30 Prozent und die Verschärfung der Strafen gegen Wiederholungstäter ohne Aufenthaltsbewilligung.

Den demokratischen Juristinnen und Juristen Genfs fiel auf, dass die Staatsanwaltschaft unter Jornot hart und sehr schematisch gegen Ausländer ohne Papiere vorging. Anwältin Camille Maulini sagt dazu, dass Sans-Papiers, die mehrmals ohne Papiere angetroffen würden, als Wiederholungstäter gelten und eingesperrt würden.

Die demokratischen Juristinnen zogen bis vor Bundesgericht, um die entsprechende Weisung des Generalstaatsanwaltes an die Staatsanwälte einsehen zu können. Und tatsächlich zeigte sich, dass die Weisung detaillierte, harte Tarife enthielt, die eine Verurteilung vorwegnahmen. Fixe Tarife aber seien illegal, sagt Anwältin Maulini. In einem Rechtsstaat müsse die Justiz die konkreten Umstände berücksichtigen.

Verzweiflung wächst

Offiziell illegal waren die Folgen der vielen Festnahmen in Genf: 2014 waren im Gefängnis Champ-Dollon 900 Personen eingesperrt. Die Anstalt bietet aber nur Platz für 380 Häftlinge. Mehrfach stellte das Bundesgericht fest, dass diese Zustände menschenrechtswidrig seien.

Und es herrschte Verzweiflung: Auf dem Höhepunkt der Krise versuchten 89 Insassen sich zu erhängen – in nur einem Jahr. Der leitende Arzt für die Genfer Gefängnisse, Professor Hans Wolff, hat die Folgen der Überbelegung wissenschaftlich untersucht. Man habe in Echtzeit beobachten können, dass wenn die Überbelegung stark hochging, auch die meisten Erhängungsversuche stattfanden. «Das war wirklich sehr augenscheinlich. Und 2015 zum Beispiel, sind die Überbelegungszahlen wieder heruntergegangen und eben auch die Selbstverletzungsraten.»

Die Entspannung 2015 erfolgte nach der Kritik durch das Bundesgericht und als die demokratischen Juristinnen und Juristen die Offenlegung der Direktive einklagten. Der Generalstaatsanwalt schwächte daraufhin seine Weisung ab. Prompt wurden weniger Leute eingesperrt.

Problem ungelöst

Gefährdete die Direktive somit Menschenleben? «Organisationsentscheidungen können das Leben der Menschen in Haft gefährden», sagt Gefängnisarzt Hans Wolff dazu. «Das haben wir gesehen. Da sind einige Fälle dabei, die ganz knapp am Tod vorbeigegangen sind.»

Und das Problem ist nicht gelöst. Noch immer sind die Gefängnisse in der Romandie überbelegt. Noch immer werden überproportional viele Menschen eingesperrt und die Kriminalpolitik der Staatsanwälte wird kaum kontrolliert.

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