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Vakanz im Bundesrat Grüne Zurückhaltung: Kluger Schachzug oder verpasste Chance?

Kaum hatte Bundesrätin Sommaruga ihren Rücktritt verkündet, kündigten die Grünen an, nicht für den Sitz zu kandidieren.

Ein paar Stunden hat es nur gedauert, dann war klar: Die Grünen werden den frei werdenden Sitz von Simonetta Sommaruga nicht angreifen. Es brauche dringend eine Stärkung der ökologischen Kräfte im Bundesrat, aber nicht auf Kosten eines SP-Sitzes, hiess es in einer Mitteilung der Partei.

Sind die Grünen feige?

Dass sich die Grünen gegen einen Angriff entschieden, überrascht Thomas Widmer nicht. Widmer ist Politologe am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Zürich. Erstaunt hat ihn allerdings, wie schnell sich die Grünen geäussert hatten. «Ich hätte erwartet, dass sie die Entscheidung herauszögern. Lässt man sich Zeit, bleibt man im Gespräch. Diese Möglichkeit hat man sich mit der schnellen Kommunikation vergeben.»

Die bisherigen Bundesratskandidaturen der Grünen

Ein Verhalten, das die Wählerinnen und Wähler der Grünen durchaus irritieren könnte. Immerhin meldete die Partei nach ihrem grossen Wahlerfolg 2019 Anspruch auf einen Bundesratssitz an und es wurde die Forderung nach einer neuen Zauberformel im Bundesrat laut. Doch nun, da sich durch die Rücktritte der Bundesräte Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga die Möglichkeit für den Sprung in die Landesregierung bietet, zeigt sich die Partei mutlos. Sind die Grünen feige?

Politologe Widmer relativiert. Und zeigt Verständnis für die Grünen. «Wenn man sich die Sachpolitik anschaut, dann gewinnt man als Grüne etwa in der Klimapolitik wenig, wenn man die SP aus der Regierung drängt. Die SP und die Grünen haben in Klimafragen ähnliche Anliegen.» Viel Energie zu verschwenden für eine nahezu aussichtslose Sache, mache nicht viel Sinn. Ausserdem sei es nicht schlau, wenn die beiden sich politisch nahestehenden Parteien so kurz vor dem Wahljahr einen Streit vom Zaun brechen.

Es ist ein Vorteil, wenn die Leute unverbraucht sind.
Autor: Thomas Widmer Politologe

Laut dem Politologen gibt es aber noch einen weiteren Grund, warum es Sinn macht, dass die Grünen auf eine Kandidatur verzichten: Wer sich nun für die Grünen aufstellen liesse, hätte nur geringe Chancen auf einen Wahlsieg. Die Kandidierenden würden dann mit dem Handicap einer Wahlniederlage in die Gesamterneuerungswahlen gehen. Ein Nachteil, so Widmer. «Es ist ein Vorteil, wenn die Leute unverbraucht sind.»

Grüne liebäugeln mit dem Sitz der FDP

Lieber warten die Grünen auf die Gesamterneuerungswahlen im Oktober 2023, da es dann mehr zu gewinnen gebe. Zwar dürfte auch das kein einfaches Unterfangen sein, denn bisherige Bundesräte werden in der Regel nicht abgewählt. Widmers Vermutung: Die Grünen pokern darauf, dass der Sitz der FDP unter Druck gerät. Dann stehen die Chancen auf einen Erfolg besser.

Ob diese Taktik aufgeht, wird sich im kommenden Jahr zeigen. Fakt ist: Die Grünen Stimmen muss sich die Partei, die schon länger im Vorzimmer des Bundesrats wartet, auch mit den Grünliberalen teilen.

SRF 4 News, 02.11.2022 17.00 Uhr

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