Der Andrang ist gross an der Veranstaltung des Europainstituts der Universität Zürich. «Offensichtlich interessiert das Thema ‹Der EuGH und die Schweiz›», sagt der ehemalige Zürcher SP-Regierungsrat Markus Notter – jetzt Präsident des Europainstituts – bei der Begrüssung der Menge. Die umstrittene Rolle des EuGH ist einer der Knackpunkte in den Verhandlungen der Schweiz mit der EU.
Viele EuGH-Urteile sind bedeutsamer als wir uns bewusst sind.
Laut dem Europarechtsprofessor Matthias Oesch gehe dabei vergessen, dass viele Urteile des EuGH schon heute sehr bedeutsam für die Schweiz seien. «Viel bedeutsamer als wir uns bewusst sind», betont Oesch.
Zum Beispiel berücksichtigt die Schweiz das Urteil des EuGH, wonach Flugpassagiere entschädigt werden müssen, wenn ein Flug verspätet ist. Ein anderes Beispiel ist das Recht auf Vergessen, das der EuGH entwickelt hat – woraufhin Google seine Geschäftspraktiken geändert habe, und zwar für ganz Europa, also auch die Schweiz, so Oesch.
Bundesgericht berücksichtigt EuGH-Urteile
Die unterschiedlichen Arten, wie das schweizerische Bundesgericht die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt, kennt Bundesrichterin Julia Hänni. Einzelne Verträge der Bilateralen sähen explizit vor, dass die EuGH-Rechtsprechung zu Begriffen in den Verträgen verbindlich ist für das Bundesgericht. Zum Beispiel die Definition, was ein Arbeitnehmer ist, sagt Hänni.
Wenn triftige Gründe vorliegen, weicht man davon ab.
Das Bundesgericht berücksichtigt dabei auch freiwillig Urteile, die nach Unterzeichnung der Bilateralen gefällt wurden. Es geht um die Idee, dass Verträge in der EU und in der Schweiz gleich ausgelegt und verstanden werden. Sonst würden die Rechtsordnungen entgegen dem Vereinbarten schon bald auseinanderdriften und der Vertrag in der Schweiz und der EU jeweils etwas anderes bedeuten. Das wäre etwa für Firmen ein Problem, die sowohl in der Schweiz als auch in der EU tätig sind.
Triftige Gründe für Abweichungen möglich
Allerdings: «Wenn triftige Gründe vorliegen, weicht man davon ab», erläutert Hänni. Zum Beispiel findet das Bundesgericht, die Schweiz habe mit dem Abkommen über die Personenfreizügigkeit keine Freizügigkeit für kriminelle Ausländer vereinbart. Das Schweizer Gericht sieht die Ausschaffung von kriminellen EU-Bürgern daher etwas anders als der EuGH.
Es ist ungewöhnlich, dass ein Staat an künftige Entscheidungen eines Gerichts gebunden wird, dem er nicht unterworfen ist.
Der Europarechtler Benedict Vischer findet es bedenklich, dass gemäss Verhandlungszielen des Bundesrats mit der EU das Bundesgericht zukünftig noch stärker an die Rechtsprechung des EuGH gebunden sein soll: «Es ist ungewöhnlich, dass ein Staat an künftige Entscheidungen eines Gerichts gebunden wird, dem er nicht unterworfen ist.» Es entspreche aber letztlich dem, was das Bundesgericht eben bereits tue. Heikel findet Vischer aber, dass keine Ausnahmen aus triftigen Gründen mehr möglich wären.
Ob das nun gut ist oder schlecht – darüber urteilt am Ende die Stimmbevölkerung.