In den siebziger Jahren gab es Schätzungen, wonach 10'000 – 15'000 Kinder von Saisonniers illegal und versteckt in der Schweiz lebten. Die genaue Zahl ist nicht bekannt.
Marina Frigerio hat mit sehr vielen von ihnen gesprochen, teils in ihrer Praxis als Psychotherapeutin, teils in Interviews für ihre Bücher. Auch mit Menschen, die als Kinder von ihren italienischen Eltern jahrelang in Italien zurückgelassen wurden oder in Heimen auf der anderen Seite der Grenze aufwachsen mussten, zum Beispiel in Domodossola oder Como. Viele Betroffene hätten das bis heute nicht richtig verarbeiten können, sagt Frigerio.
SRF News: Wie und wann sind Sie zum ersten Mal auf das Thema der versteckten Kinder von italienischen Saisonniers gestossen?
Marina Frigerio: Das war in den 1980er Jahren, als ich neben meinem Psychologie-Studium an der Universität Zürich auf Beratungsstellen für italienische Kinder und ihre Familien gearbeitet habe. Ich habe gemerkt, dass es Kinder gab, die eine spezielle Vergangenheit hatten, über die man ungern sprach – wenn sie zum Beispiel mit den Eltern zur Beratung kamen.
Und dann habe ich nachgefragt und festgestellt, dass viele Kinder versteckt gelebt hatten oder getrennt von ihren Eltern aufgewachsen sind, weil die Eltern Saisonniers waren.
Diese Eltern lebten in ständiger Angst, dass das Kind entdeckt werden könnte.
Wie wirkt sich die Illegalität und Eingesperrtsein oder die Trennung von den Eltern aus?
Es verursacht eine Zäsur im Familienleben. Es gibt Kinder und Jugendliche, die ihre Eltern nur als entfernte Onkel und Tanten erlebt haben, wenn sie zum Beispiel in Heimen aufwachsen mussten oder bei Verwandten zurückblieben. Sie sahen ihre Eltern nur während einiger Wochen im Jahr.
Andere, die hier versteckt leben mussten, haben ihre Eltern als sehr streng erlebt und viel zu wenig Liebe und Zuwendung bekommen. Diese Eltern lebten in ständiger Angst, dass das Kind entdeckt und die Familie ausgewiesen werden könnte.
Das sind keine guten Bedingungen, um aufzuwachsen. Das hat Spuren hinterlassen, manchmal sogar Hass gegen die eigenen Eltern. Oder eine grosse Traurigkeit. Diese Traurigkeit kommt bei den Erzählungen immer wieder hervor.
Sie haben mit Hunderten von Betroffenen gesprochen und deren Geschichten in Büchern veröffentlicht. Warum ist das wichtig?
Ich habe viele Rückmeldungen von Betroffenen erhalten. Sie konnten dadurch ihre traumatischen Erfahrungen in einen Kontext setzen, was ihnen geholfen hat, ihre Eltern zu verstehen und sich mit ihnen wieder zu versöhnen. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Eltern schon alt und zum Teil schon gestorben sind. Das hat mich sehr beeindruckt.
Sie erzählen in Ihren Büchern auch viele Erfolgsgeschichten – von Menschen, die ihren Weg gefunden haben und versöhnt mit dieser Vergangenheit leben können.
Ich möchte zuerst sagen, dass auch die Erfolgsgeschichten voller Schmerz und Leid sind. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, dass man sich damit versöhnt hat. Bis heute hat sich nämlich niemand offiziell bei diesen Menschen entschuldigt.
Es gibt Leute, die nie aus diesen Traumata herauskommen konnten. Aus verschiedenen Gründen. Manche verfielen der Drogensucht und landeten dann an Orten wie dem Platzspitz. Es ist kein Zufall, dass das Italienische an solchen Orten eine viel gehörte Umgangssprache war.
Ich kannte zahlreiche dieser jungen Menschen, und ich wusste, dass mehrere von ihnen Kinder von ehemaligen Saisonniers waren, die entweder von der Familie getrennt aufgewachsen waren oder lange hier versteckt gelebt hatten.
Das Saisonnier-Statut wurde 2002 abgeschafft, als die Personenfreizügigkeit mit der EU in Kraft getreten ist. Existiert das Problem heute nicht mehr?
Ich kenne die Situation mehrerer Frauen, die illegal hier sind und als Haushälterinnen arbeiten oder ältere Menschen pflegen. Viele kommen aus Lateinamerika. Ihre Kinder dürfen sie nicht hierherholen. Und wenn sie es trotzdem wagen, dann tauchen diese Kinder unter. Auch illegale Kinder haben eigentlich seit vielen Jahren ein Anrecht auf den Schulbesuch. Aber ob die betroffenen Familien es wagen, ihre Kinder in einer Schule anzumelden, ist eine andere Sache. Dasselbe gilt für die Krankenkasse.
Auch Sans-Papiers hätten das Recht, eine Krankenversicherung abzuschliessen. Aber aus Angst und Unwissen gibt es viele Leute, die nicht versichert sind und darum auch nicht zum Arzt gehen.
Das Gespräch führte Claudio Spescha.