Was heisst hier Zukunft? Der Gefangene in Zelle A95 fixiert den Besucher und sagt, dass hier für ihn Endstation sein werde: «Irgendwann werden sie mich in der Holzkiste aus der Zelle herausschleppen und in den Ofen stecken.»
Der Gefangene ist 64-jährig, hat mehrfach vergewaltigt, wurde verurteilt und verwahrt. Er ist gesundheitlich schwer angeschlagen, hat eine Herzoperation hinter sich, hat Stenose. «Bei dieser Krankheit verkleben die Arterien und die Venen. Irgendwann führt sie zum Tod», sagt er.
Der Gefangene gehört zu den derzeit elf Insassen der sogenannten «Abteilung 60plus» im Zentralgefängnis am Rand von Lenzburg. Fast alles Verwahrte – schwere Fälle. Platz hat es für zwölf.
Den meisten von ihnen wird letztlich erst der Tod die Freiheit bringen. Wer hier ist, ist freiwillig hier, hat sich für die Senioren-Abteilung entschieden, spricht Deutsch, ist gruppenfähig und hat eine lange Strafe.
Wie alt ist eigentlich der älteste? «Das hätten Sie vor zwei Jahren fragen sollen. Damals war der älteste Gefangene 89, heute 74», sagt Erich Hotz. Der 57-Jährige ist Dienstchef der Spezialabteilung, die vor acht Jahren eröffnet wurde. Heute arbeiten sechs Vollzugs-Angestellte hier.
Weihnachtsengel basteln
In der «Abteilung 60plus» gelten andere Regeln als im normalen Strafvollzug, erklärt Hotz: «Die Gefangenen haben hier mehr Freiheiten innerhalb der Mauern. Zum Beispiel sind die Zellen vom Morgen bis am Abend offen.»
Die Telefonregelung sei zudem grosszügiger und die Insassen dürften sich hier auch andere Dinge besorgen als im Normalvollzug. Aber der Dienstchef stellt klar: «Es spielt sich alles innerhalb der Mauer ab.»
Diese Mauer um das Gefängnis ist riesig – sechs Meter hoch. Eine Künstlergruppe hat Graffiti drauf gesprayt. Der Gefangene spricht von Schmierereien. Seine Zelle ist 12.6 Quadratmeter gross und hat vergitterte Fenster.
An der Pinnwand über dem Bett hängt ein Kalender, Monat März, kein Eintrag, alles leer. «Ich arbeite hier in der Kreativabteilung und bastle einen halben Tag, mache Karten, Engelchen für Weihnachten oder dergleichen», beschreibt der Gefangene seinen Alltag.
Dienstchef Hotz sitzt mit Bruno Graber, dem Leiter des Zentralgefängnisses an einem Tisch. Bei 60plus gelte eine reduzierte Arbeitspflicht, erklären die beiden Männer. Es gehe nicht darum, dass die Gefangenen wahnsinnig produktiv seien, sondern dass sie durch die Arbeit eine Tagesstruktur bekämen, sagt Hotz.
Zudem müssen die Gefangenen die Räumlichkeiten putzen und ihre Wäsche selber machen, ergänzt Graber: «Es ist uns enorm wichtig, dass diese Leute selbständig bleiben.»
Die Gesellschaft ist nicht mehr bereit, solche Leute wieder aufzunehmen.
Auf dem Gang steht ein Rollstuhl – für nicht mehr so selbständige, pflegebedürftige Insassen. «Dass wir diese aufnehmen müssen, hat damit zu tun, dass die Gesellschaft mehr Sicherheit will», sagt Bruno Graber, der seit 36 Jahren in Lenzburg im Strafvollzug arbeitet.
Straftäter, die vor zehn oder 20 Jahren mit diesen gesundheitlichen Problemen aus der Verwahrung entlassen worden seien, kämen heute nicht mehr frei. «Die Gesellschaft ist nicht mehr bereit, solche Leute wieder aufzunehmen», bilanziert der Gefängnisleiter.
Somit müssten die Gefängnisse neben den Sicherheitsmassnahmen auch mit den gesundheitlichen Problemen der Insassen zurande kommen. «Das sind die Schwierigkeiten, die auch so explosivartig Kosten verursachen», sagt Graber.
Der Gefangene in der Zelle A95 sagt dazu bloss ein einziges Wort: «Null-Risiko-Gesellschaft». Und ihre Forderung nach absoluter Sicherheit. Hier im Gefängnis sind die Haupttüren mit Augen-Scannern gesichert. Eine Computerstimme erklärt, dass die Identifizierung des Besuchers abgeschlossen sei.
Wir haben schon Gefangenen den Rücken eingecremt.
Um Sicherheit geht es zwar auch im Kontakt mit den Gefangenen von 60 plus. Doch diese wird hier etwas anders gewährleistet, wie Sicherheitschef Hotz erklärt. Im normalen Vollzug halte man immer eine Armlänge Abstand von den Gefangenen – ausser man müsse intervenieren. Anders sieht es hier aus: «Wir haben schon Gefangenen den Rücken eingecremt, beim Verbandswechsel geholfen, ich habe Gefangene schon geduscht.»
Hier arbeitet man auch mit der Spitex zusammen und bietet eine spezielle Patientenverfügung an, sagt Bruno Graber. Der Gefängnisleiter hat sich – wie wohl kein zweiter – mit der Problematik der alten Gefangenen befasst.
Auch Leute, die unheilbar krank seien, könne man hier im Gefängnis pflegen. «Wir schauen, dass wir dies so lange wie möglich bei uns im Haus machen können. Irgendwann sagt dann die Spitex, die die Leute mit einem Arzt zusammen betreut, wenn es nicht mehr geht.»
Zeit zu gehen. Öffnen, schliessen, Augen-Scanner, Mauer, Drehtür – wieder draussen. Dort, wo man Sicherheit will – um jeden Preis.