Es war ein wuchtiges Ja im Herbst 2021: 61 Prozent des Stimmvolks nahm die Pflege-Initiative an. Sie ist das siebt-erfolgreichste Volksbegehren seit 1893 – und gibt ähnlichen Forderungen Aufwind. So hat der Berufsverband der Lastwagen-Fahrer «Les Routiers Suisses» heute die Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative gestartet. Die Initianten wollen mittels Verfassungsartikel «angemessenere Arbeitsbedingungen» für Chauffeusen und Chauffeure schaffen.
«Wir brauchen diese Initiative, weil sonst Berufsperspektiven fehlen», sagt David Piras, Generalsekretär von «Les Routiers Suisses». Man habe viele Berufsaussteiger und zu wenig einheimischen Nachwuchs. Mehr als die Hälfte der Chauffeure werde aus dem Ausland rekrutiert.
Tatsächlich hängen laut dem Schweizerischen Nutzfahrzeugverband Astag jährlich rund 5000 LKW-Fahrer ihren Beruf an den Nagel, während nur rund 2000 neue dazukommen. Im vergangenen Jahr absolvierten 240 Jugendliche die Grundbildung als Strassentransport-Fachperson und 1819 Quereinsteiger konnten für den Gütertransport rekrutiert werden. Das sei viel zu wenig, betont Piras: «Wir sollten zehnmal mehr Leute ausbilden.»
Ein weiteres Problem ist die Überalterung. So ist heute ein Drittel der Chauffeurinnen und Chauffeure zwischen 46 und 55 Jahre alt.
Die fehlende Attraktivität des Berufs ist auf die vielen Arbeitsstunden und den Zeitdruck, aber möglicherweise auch auf tiefere Löhne zurückzuführen. Zwar verdient ein LKW-Fahrer in der Schweiz im Durchschnitt rund 5500 Franken pro Monat, wie eine Umfrage des Forschungsinstituts gfs.bern vom Mai 2022 zeigt. «Wir stellen aber fest, dass viele im Ausland rekrutierte Chauffeure zu tieferen Löhnen angestellt sind. Mit 355 Franken kann man in der Schweiz nicht leben», sagt Piras. Es brauche daher einen gesetzlich verankerten Mindestlohn und eine Ausbildungsoffensive.
Chauffeur-Anliegen dürfte es schwer haben
Der Nutzfahrzeugverband steht der Chauffeur-Initiative skeptisch gegenüber. «Die Löhne im Strassentransport-Gewerbe sind in der Mehrheit angemessen und fair», sagt Vizedirektor André Kirchhofer und stützt sich auf einen Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft. «Es wäre verfehlt, ein staatliches Lohndiktat einzuführen.»
Man bemühe sich nach Kräften, möglichst viele Arbeitnehmende aus der Schweiz in den Beruf zu bringen. «Es wäre wünschenswert, dass auch der Berufsverband in diesem Bereich aktiv wird, statt eine unnütze Initiative zu lancieren», kritisiert Kirchhofer.
Im Abstimmungskampf um die Pflege-Initiative warnte die Gegnerschaft vor Nachahmern: Sollte der Vorstoss durchkommen – so die Befürchtung – könnte dies weitere Berufsstände ermuntern, bessere Arbeitsbedingungen in der Verfassung verankern zu wollen. Der Chauffeur-Berufsverband räumt ein, dass die Pflege-Initiative als Vorbild diene.
Ob die Chauffeur-Initiative dieselbe Dringlichkeit erlangt wie die Pflege-Initiative, ist fraglich.
Weitere Volksinitiativen von Berufsverbänden dürften einen schweren Stand haben. Das sagt Martina Mousson von gfs.bern. Die Pflege-Initiative sei in einem aussergewöhnlichen Kontext zur Abstimmung gelangt, erklärt die Politologin: «Mitten in der Pandemie erlangte der Pflegenotstand grosse Sichtbarkeit und allen wurde klar, dass wir in einer Gesundheitskrise besonders auf die Pflege angewiesen sind.»
Ob die Chauffeur-Initiative dieselbe Dringlichkeit erlangt, sei fraglich. Laut Mousson ist jedoch nicht auszuschliessen, dass der grosse Erfolg der Pflege-Initiative noch weitere Berufsstände zu ähnlichen Vorstössen inspiriert.