Die reiche Schweiz rutscht im weltweiten Glückranking weiter nach hinten und steht neu auf Platz 9. Im Jahr zuvor war es Platz 8 und vor zwei Jahren gar noch Platz 4. Die Erhebung basiert auf der subjektiven Einschätzung der Bevölkerung zwischen 2021 und 2023. Der Abstand unter den Top Ten sei sehr gering, relativiert der Ökonom und Glücksforscher Mathias Binswanger die Resultate.
SRF: Wie schätzen Sie die jüngsten Resultate der Schweiz im aktuellen Glücksbericht ein?
Mathias Binswanger: Längerfristig betrachtet ist die Schweiz nicht stark nach hinten gerutscht. Erstaunlich ist eher, dass die Schweiz einmal so weit vorn war. Denn wer als ausländischer Gast in die Schweiz kommt, wird ja nicht überall von lachenden und fröhlichen Menschen überrascht, sondern eher vom Gegenteil. Die meisten Menschen sind dann erstaunt, dass die Schweiz überhaupt so weit vorn liegt. Das Resultat sollte entsprechend nicht überinterpretiert werden angesichts der kleinen Differenzen zwischen den hoch entwickelten Ländern. Die kleinen Veränderungen aufgrund der Einschätzung der Menschen in der Schweiz sind am Schluss nicht signifikant.
Die Schweiz ist weiterhin unter den Top Ten, woran liegt das?
Dazu gehören der hohe durchschnittliche materielle Wohlstand und die hohe Sicherheit, wobei die Arbeitsplatzsicherheit eine ganz grosse Rolle spielt. Das Gefühl, nächstens den Arbeitsplatz verlieren zu können, hat eine deutliche Wirkung auf die Lebenszufriedenheit. In der Schweiz müssen die meisten Menschen dieses Szenario nicht fürchten. Doch auch das politische System spielt eine Rolle. Die in vielen Ländern berechtigte Meinung, die Regierung könne gegen Bürgerinnen und Bürger handeln, gibt es nicht. In der Schweiz kann man sich aktiv wehren: auf gesamtwirtschaftlicher Ebene mit Initiativen und Referenden, aber auch im Privaten mit Einsprachen. All das trägt dazu bei, dass sich in der Schweiz niemand einem System ausgeliefert fühlen muss.
Es herrscht in der Schweiz eine Tendenz, das Glas nicht zu neun Zehnteln voll zu sehen, sondern zu einem Zehntel leer.
Die Rangliste wird weiterhin von nordischen Ländern angeführt. Kann die Schweiz von Ländern wie Finnland auf dem Spitzenplatz etwas lernen?
Wahrscheinlich nicht viel. Denn die Unterschiede sich wirklich sehr klein. In den nordischen Ländern herrscht zudem immer noch die protestantische Tradition vor, dass man mit dem zufrieden sein soll, was man hat. Das ist in der Schweiz zumindest zum Teil nicht gegeben. Es herrscht eine Tendenz, das Glas nicht zu neun Zehnteln voll zu sehen, sondern zu einem Zehntel leer. Wir betonen eigentlich immer die Dinge, die nicht perfekt sind, nicht gut funktionieren. Wir haben das Gefühl, immer weniger zu verdienen, obwohl wir in der Schweiz besser leben als in fast allen anderen Ländern. Die Tendenz, die eigene Lage schlechtzureden, ist in den nordischen Ländern vielleicht etwas weniger ausgeprägt.
Das Gespräch führte Oliver Kerrison.