3500 Tonnen Fliegerbomben, Minen und Handgranaten liegen immer noch im Munitionslager in Mitholz im Kandertal. Ein Albtraum für die Bevölkerung.
Die Armee stellte Fragen, Berichte wurden geschrieben. Man habe nach der Katastrophe 1947 gewusst, dass es weitere Explosionen geben könnte, sagt Bruno Locher, Chef Raum und Umwelt beim VBS: «Man kam zum Schluss, dass dies kein grösseres Ausmass haben würden.» Diese Beurteilung wurde 1986 bestätigt und erst 2018 revidiert.
Man liess die Sache ruhen. Damals gab es auch noch nicht die technischen Möglichkeiten für eine Untersuchung wie heute. Dennoch: Warum hat das 70 Jahre lang niemand hinterfragt?
Bei der Armee ging es auch um Geld, sagt Militärhistoriker Rudolf Jaun: «Man hat Lösungen gesucht – auch kostengünstige. Mitholz hat man als gelöst angeschaut.»
Die Katastrophe von Mitholz 1947
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Bild 1 von 10. Nach der Schreckensnacht in Mitholz zeugen Trümmer und beschädigte Häuser von der Katastrophe. Es ist die Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1947, als sich in der Gemeinde Kandergrund im Berner Oberland eine der grössten Explosionskatastrophen der Schweiz ereignet. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 10. In einem Munitionslager der Schweizer Armee kommt es zu einer Reihe schwerer Explosionen. Rund 4000 von 7000 Tonnen eingelagerter Munition explodieren oder verbrennen. Im Bild: Die zugemauerten Stolleneingänge des ehemaligen Munitionslagers. Bildquelle: VBS.
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Bild 3 von 10. Einer der Stollen nach der Explosion. Bildquelle: VBS.
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Bild 4 von 10. Die Felswand, in der sich das Munitionsdepot befindet, stürzt ein, wobei sich etwa 250'000 Kubikmeter Gestein lösen. Bildquelle: VBS.
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Bild 5 von 10. Neun Menschen sterben, mehrere werden verletzt. 200 Personen sind obdachlos. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 10. Die Explosionen sind so gewaltig, dass 40 Häuser zerstört oder beschädigt werden. Der Sachschaden wird auf 100 Millionen Franken geschätzt, was heute 490 Millionen Franken entspricht. Bildquelle: VBS.
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Bild 7 von 10. Im Kirchlein Kandergrund findet die Trauerfeier für die Opfer der Explosionskatastrophe statt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 10. Die Katastrophe löst eine Solidaritätswelle in der Bevölkerung aus. Im Schulzimmer in Kandergrund türmen sich bald Spenden und Pakete aller Art (Foto vom Januar 1948). Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 10. Aufräumen nach der Katastrophe: Bahnarbeiter reparieren die Gleise. Die Bahnstrecke ist tagelang unterbrochen und die Station Blausee-Mitholz der Lötschbergbahn zerstört. Bildquelle: Keystone.
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Bild 10 von 10. Wohin mit den Munitionsrückständen? Um den Gefahren durch überalterte Munitionsbestände zu begegnen, beschloss der Bundesrat im März 1948, 2500 Tonnen Artilleriemunition im Thuner-, Brienzer- und Vierwaldstättersee zu versenken. Zusätzlich wurden rund 1500 Tonnen von Rückständen aus Mitholz im Thunersee versenkt. Bildquelle: VBS.
Nicht nur das Militär, auch die Bevölkerung reagierte damals anders als heute. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zweifelte man nicht an der Armee, sagt Jaun: «Im Kalten Krieg, bis vielleicht in die 1970er Jahre, hat man sehr vieles akzeptiert. Was das Militär machte, hinterfragte man nicht wirklich.»
Deshalb verschoss man in den Schiessständen bleihaltige Munition, ohne dass sich jemand aufgeregt hätte. Dann änderte sich vieles: Politiker und Teile der Bevölkerung wollten die Armee abschaffen, Medien berichteten über tonnenweise versenkte Munition in Schweizer Seen und im Thunersee entdeckte man deformierte Felchen.
Es gab über ein Dutzend Militärabstimmungen. Das belegt einen riesigen Politik- und Mentalitätswandel.
Im Parlament wurden Massnahmen verlangt. Politiker wie der damalige VBS-Chef Samuel Schmid wehrten ab: «Selbst eine minimste potenzielle Gefährdung gibt noch keine unmittelbare Gefahr.» Aber die verborgenen Altlasten und ihre Gefahren für die Umwelt beschäftigten nun Bevölkerung und Medien: «Wer schützt uns vor der Armee?» kommentierte eine Zeitung.
Für Militärhistoriker Jaun ist heute alles, was sich ums Militär dreht, skandalisierungswürdig: «Es gab über ein Dutzend Militärabstimmungen. Das zeigt einen riesigen Politik- und Mentalitätswandel.»
Der Zeitgeist hat geändert, und das ist richtig so.
Das VBS sah sich aber nicht nur einer sensibilisierten Öffentlichkeit gegenüber, es musste auch neue Vorschriften einhalten, etwa die Sprengstoffverordnung. Seit ein paar Jahren listet ein Gefahrenkataster 2550 Orte auf, in denen es belastete Standorte gibt, etwa Schiessanlagen. Auch das Militär muss mit der Zeit gehen.
Hanspeter Aellig, Projektchef für die Räumung in Mitholz, spürt diesen neuen Zeitgeist: «Wir haben noch eine sehr grosse Zahl an Schiessplätzen und es hat immer noch Munition im Boden. Wir haben den Auftrag, diese zeitnah zu räumen. Der Zeitgeist hat geändert, und das ist richtig so.»
Neue Kultur der Nulltoleranz
Der Historiker Michael Olschansky forscht über die Entwicklung des militärischen Denkens. Das habe sich nicht grundsätzlich verschoben, aber heute herrsche eine Kultur der Nulltoleranz, die Sicherheit der Bevölkerung habe absolute Priorität: «Das war vielleicht nach den beiden Weltkriegen anders und hat sich allmählich entwickelt.»
Ein Zeichen für diese Entwicklung sei auch die transparente Information des VBS zur Räumung des Munitionslagers Mitholz. Nicht nur die aktuelle VBS-Vorsteherin Viola Amherd; auch ihr Vorgänger Guy Parmelin reiste persönlich nach Mitholz, um die Bevölkerung zu informieren.
«Echo der Zeit», 26.02.2020, 18:00Uhr; imhm; kurn