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Willkürliche Justiz? Sag mir, wer der Richter ist, und ich nenne dir die Strafe

Ob ein Mörder zehn oder zwanzig Jahre ins Gefängnis muss, liegt im Ermessen der Richterin. Laut dem Rechtswissenschaftler Luca Ranzoni führt das zu Ungerechtigkeiten.

Luca Ranzoni

Rechtswissenschaftler

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Luca Ranzoni hat in Zürich und Maastricht Recht studiert, das Anwaltspatent in St. Gallen gemacht und dort als Gerichtsschreiber am Kantonsgericht St. Gallen gearbeitet. Anschliessend verfasste er an der Universität Zürich seine Doktorarbeit zum Thema «Gerechte Strafen ohne Gleichheit? Eine rechtliche und empirische Analyse der Schweizer Strafzumessungspraxis». Seit Oktober 2024 arbeitet er als Gerichtsschreiber am Bundesgericht.

SRF News: Sie haben in Ihrer Dissertation untersucht, welche Strafen verschiedene Richterinnen und Richter für den gleichen Fall geben. Was ist das Ergebnis?

Luca Ranzoni: Dass es grosse Unterschiede gibt: Richterinnen und Richter schätzen den gleichen Fall unterschiedlich schwer ein.

Können Sie ein Beispiel machen?

Bei einem Tötungsdelikt liegen die Richterinnen und Richter bei der Strafe im Schnitt über drei Jahre auseinander. Das ist eine relativ lange Zeit für Leute, die vom Urteil betroffen sind.

Wie sind Sie bei der Untersuchung vorgegangen?

Ich habe allen erstinstanzlichen Strafgerichten eine Online-Umfrage geschickt. Die Richterinnen und Richter füllten aus, welche Strafe sie in fiktiven Beispielen ausfällen würden.

Frau mit Augenbinde
Legende: Menschliche Richterinnen und Richter werden dem Ideal der blinden Justitia nicht gerecht. Im Bild die Skulpturengruppe «Justitia» der Bildhauerin Luzia Werner auf dem Kunstpfad in Sachsen-Anhalt, Deutschland. KEYSTONE/DPA/Hendrik Schmid

Was ist Ihr Fazit?

Das Gesetz ist zu offen formuliert, der Ermessensspielraum zu gross, es gibt zu wenige Hilfestellungen. Man sollte den Richterinnen und Richtern mehr Richtlinien an die Hand geben – möglichst schweizweit einheitlich. Man sollte auch Fälle in Datenbanken sammeln, damit man herausfinden kann, was eine übliche Strafe etwa für einen Diebstahl von 500 Franken ist. Das sind Informationen, die man heutzutage auch als Richterin oder Richter nicht hat. Man wird ein wenig alleingelassen mit dieser schwierigen Aufgabe.

Richterliches Ermessen

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Im Strafgesetzbuch sind Strafrahmen angegeben: Wer etwa einen Menschen lebensgefährlich verletzt, riskiert zwischen einem und zehn Jahren Haft. Ob jemand für eine solche Tat ein Jahr, drei Jahre oder zehn Jahre ins Gefängnis muss, entscheidet der Richter oder die Richterin aufgrund der Umstände des konkreten Falls. Dieser richterliche Ermessensspielraum dient der Einzelfallgerechtigkeit.

Auch in anderen Rechtsgebieten – bei Mietstreitigkeiten, Scheidungen oder Einbürgerungen – soll der Richter oder die Richterin die Umstände individuell berücksichtigen und dem Einzelfall gerecht werden. Kürzlich hat das Bundesgericht zum Beispiel bekräftigt, dass bei Einbürgerungen immer die Gesamtumstände berücksichtigt werden müssen und nicht schematisch nach einer Tabelle entschieden werden darf. Die Kehrseite dieses Ermessens: Wenn vergleichbare Fälle zu unterschiedlich beurteilt werden, kann das als ungerecht empfunden werden.

Es müsste also schematischer vorgegangen werden. Wäre ein Automat – eine Künstliche Intelligenz – folglich besser als eine menschliche Richterin?

Dass eine KI beim Entscheid den Menschen ersetzt, da wäre ich vorsichtig. Es ist ein wesentliches Element des Strafrechts, dass ein Mensch den Entscheid gegenüber einem anderen Menschen verantwortet. Man könnte KI aber nutzen, um aktuelle Fälle zu erfassen und in einer Datenbank aufzubereiten. Es gibt so viele Urteile, kein Mensch kann die alle lesen – das müsste eine KI machen, da sehe ich grosses Potenzial.

Es gibt keine Anleitung, wie man auf die richtige Strafe kommt.

Wie sind Sie eigentlich auf das Thema Ihrer Doktorarbeit gekommen?

Als Gerichtsschreiber am Kantonsgericht St. Gallen habe ich am eigenen Leib erlebt, wie schwierig es ist, eine Strafe vorzuschlagen. Es gibt keine Anleitung, wie man auf die richtige Strafe kommt. Aus der Ohnmacht als Gerichtsschreiber ergab sich das Bedürfnis, das Thema wissenschaftlich zu untersuchen. Zudem kam ein Buch von Daniel Kahneman heraus, das genau dieses Phänomen beschrieb: Wo verschiedene Menschen entscheiden, kommen sehr unterschiedliche Ergebnisse heraus.

Es gibt sicherlich Personen, die dem Richter sympathischer sind und andere weniger.

Was ist Ihr persönlicher Eindruck aus dieser Erfahrung als Gerichtsschreiber: Hängt das Urteil von der Parteizugehörigkeit der Richterin ab, von ihrer persönlichen Meinung oder gar von Sympathie?

Die ehrliche Antwort ist: von allem. Die Persönlichkeit der Richterin oder des Richters spielt sicher keine unerhebliche Rolle, sie ist aber komplex. Die Individualität der Richterin als Ganzes ist entscheidend. Dazu gehört auch, wie sie auf den Fall reagiert: Es gibt sicherlich Personen, die einer Richterin sympathischer sind und andere weniger. Es ist nun mal ein menschlicher Entscheid. Der wird beeinflusst durch die eigene Geschichte und Prägung – das habe ich an mir selbst erlebt, wenn ich als Gerichtsschreiber einen Entscheid-Entwurf schrieb. Bis zu einem bestimmten Punkt ist das normal und richtig, aber es muss sich im Rahmen halten, damit die Menschen fair beurteilt werden.

Das Gespräch führte Sibilla Bondolfi.

Zur Studie

Echo der Zeit, 21.5.2025, 18 Uhr ; 

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