Mit einem düsteren Szenario hat das VBS versucht, den Bundesrat von einem 10-Milliarden-Fonds für die Armee zu überzeugen. Die Einschätzungen, worauf sich das VBS stützt, stammen aus Nato-Kreisen . Demnach könnten die USA die Ukraine fallen lassen. Die Folge wäre ein schneller Zusammenbruch der Ukraine und die entsprechenden Migrationsbewegungen. Die Destabilisierung des Westbalkans, Regimewechsel in Afrika und die Rückkehr des islamistischen Terrors würden zusätzlich gemäss Szenario den Druck erhöhen. Deswegen könnte Europa innerhalb von drei bis acht Jahren zerbrechen. Sicherheitsexperte Jean-Marc Rickli hält dies jedoch nicht für das wahrscheinlichste Szenario.
SRF News: Jean-Marc Rickli, wie schätzen Sie dieses Szenario ein?
Jean-Marc Rickli: Ich glaube nicht, dass Europa auseinanderbrechen könnte. Aber das Szenario greift mehrere Elemente auf, die bereits geschehen sind. Zum Beispiel, dass Migration als Druckmittel gegen Europa eingesetzt wird. In den Jahren des Islamischen Staates hat die Türkei dies getan. Und Russland macht das gegenwärtig an der finnischen Grenze. Diese Elemente gibt es also.
Dieses Szenario verwendet Elemente, die bereits existieren.
Andererseits ist auch klar, dass Donald Trump schon während seiner ersten Präsidentschaft eine sehr kritische Haltung gegenüber der Nato angekündigt hat und die europäischen Verbündeten unter Druck setzte und ihnen sagte: «Ihr müsst mindestens zwei Prozent des BIP ausgeben. Sonst werden die USA im Notfall nicht kommen, um euch zu helfen.»
Dieses Szenario verwendet also Elemente, die bereits existieren, und es entwirft ein Szenario, das ebenfalls möglich ist, nämlich dass Trump an die Macht kommt und beschliesst, sich aus der Ukraine zurückzuziehen und die US-Truppen aus Europa zurückzuholen.
Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?
Das ist zwar nicht das wahrscheinlichste Szenario, aber es ist auch nicht völlig abwegig. Ich stehe einem Zusammenbruch Europas in drei bis acht Jahren kritischer gegenüber, aber die Analyse weist zu Recht darauf hin, dass sich Auswirkungen verschiedener Risiken kumulieren könnten: die Situation in der Ukraine, Russlands Instrumentalisierung der Migration und die Instrumentalisierung Afrikas oder das Wiederaufleben des Islamischen Staates. Für all diese Entwicklungen gibt es aktuelle Belege.
Die meisten Elemente, die in diesem Szenario enthalten sind, sind durchaus plausibel.
Zum Beispiel haben vor zwei Tagen Niger, Mali und Burkina Faso offiziell mitgeteilt, die Ukraine müsse in ihren Handlungen gestoppt werden. Dahinter steht eindeutig Moskau. Die meisten Elemente in diesem Szenario sind also durchaus plausibel.
Sicherheitspolitiker aus dem Parlament kritisieren eine mangelnde Kohärenz in den VBS-Analysen. Wenn man das Aussprachepapier des VBS mit anderen Papieren des VBS vergleicht, ist dieses tatsächlich viel pessimistischer als die anderen Analysen.
Ich verstehe diese Kritik. Aber in dem Moment, in dem Sie einen Bericht schreiben, werden Sie auch von der aktuellen Situation beeinflusst. Und wenn Sie vor einem Monat, kurz nach dem Attentat auf Trump, gebeten worden wären, diesen Bericht zu schreiben, dann war es ziemlich klar, dass Trump einen sehr grossen Vorteil in der Wahlkampagne hatte.
Es geht in Richtung grösserer Machtblöcke und einer weltanschaulichen Spaltung.
Nun hat sich die Dynamik völlig verändert. Was man als Analyst also versuchen muss, ist, sich von solchen punktuellen Ereignissen zu lösen und die Megatrends zu sehen. Und die sind leider nicht positiv. Sie gehen in Richtung grösserer Machtblöcke und einer weltanschaulichen Spaltung.
Auf der einen Seite die Demokratien, die das liberale System fördern wollen, auf der anderen Seite Autokratien, die ihr eigenes System fördern wollen, das auf Machtpolitik beruht. Und das sieht man immer mehr in allen Regionen der Welt, sei es in Asien, im Nahen Osten oder in Europa. Und die Schweiz ist de facto auf der Seite der westlichen Demokratien. Und selbst wenn man neutral ist, ist man keineswegs immun gegen das, was um einen herum passiert. Deshalb sieht man, dass die Situation eher negativ, wenn nicht sogar sehr negativ ist.
Aber ist es kein Problem, wenn sich die Analysen aus dem VBS zu stark voneinander unterscheiden, wenn sie nicht kohärent sind?
Ich habe das selber beruflich in unserem Zentrum in Genf erlebt. Wir hatten vier Tage vor dem Angriff der Hamas auf Israel ein Seminar über die Situation im Nahen Osten. Und eine Erkenntnis des Seminars war, dass wir im Nahen Osten nach 30 Jahren endlich einmal eine positive Entwicklung sehen. Weil es das Abraham-Abkommen gab, weil es die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Saudi-Arabien und Iran gab. Vier Tage später kam es zum Angriff der Hamas.
Sie sehen, wie schnell sich die Situation und auch die Lageanalyse ändern kann. In den internationalen Beziehungen kann man Megatrends und schwache Signale erkennen, aber das ist keine Physik. Und manchmal gibt es auch «Black Swans», unvorhersehbare Ereignisse, die Ihre Analyse in Frage stellen.
Das Gespräch führte Georg Halter.