Die meisten Zahnarztrechnungen berappen in der Schweiz Patientinnen und Patienten selbst. Normalerweise zahlen nämlich weder Krankenkasse noch Invalidenversicherung. Doch es gibt Ausnahmen. Wenn etwa die Zahnprobleme angeboren sind (Geburtsgebrechen), muss die IV zahnmedizinische Behandlungen von Kindern zahlen, bis die Personen 20 Jahre alt sind.
Im konkreten Fall litt ein heute 13-jähriger Junge an einer angeborenen Dysplasie der Zähne. Das ist eine Erbkrankheit, bei der die Zähne nicht richtig angelegt oder ausgebildet werden. Die Eltern des Jungen wollten deshalb, dass die IV die medizinische Behandlung dieses «Geburtsgebrechens» zahlt.
Wann liegt ein Geburtsgebrechen vor?
Doch die IV-Stelle Luzern wies das Begehren der Eltern ab, mit der Begründung: Nur wenn zwölf bleibende Zähne von der Dysplasie betroffen seien, gelte die Krankheit als Geburtsgebrechen. Da der Junge mehrheitlich noch das Milchgebiss hatte, sah die IV-Stelle die Bedingung nicht als erfüllt an. Das Paradoxe daran: Bei Dysplasie müssen die neuen Zähne direkt nach dem Herauswachsen behandelt werden, damit sie erhalten bleiben.
Das Kantonsgericht Luzern stützte die Ansicht der IV. Doch jetzt gibt das Bundesgericht den Eltern in einem Leitentscheid recht: Die Dysplasie des Jungen gilt als Geburtsgebrechen – die IV muss folglich für die Behandlungen aufkommen.
Laut Bundesgericht ist Verzögerung nicht sinnvoll
Das Bundesgericht argumentiert, die Bedingung mit den zwölf befallenen Zähnen solle eine gewisse Mindestschwere der Krankheit sicherstellen. Es sei aber sicherlich nicht Sinn und Zweck dieser Regel, eine notwendige Behandlung aufzuschieben – vor allem, wenn dadurch die Zähne Schaden nehmen.
Ein Anspruch auf medizinische Massnahmen bestehe deshalb nicht erst dann, wenn mindestens zwölf Zähne durchgebrochen und hochgradig befallen seien, sondern schon dann, wenn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mindestens zwölf Zähne betroffen sein werden, was hier der Fall sei: Auf Röntgenbildern sei erkennbar, dass die noch im Kiefer steckenden Zähne des Buben unterentwickelt seien.
Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz, freut sich über den Leitentscheid des Bundesgerichts. Dass vor Gericht darüber gestritten werden muss, ob Zahnbeschwerden auf mangelhafte Hygiene, eine Krankheit oder ein Geburtsgebrechen zurückzuführen sind, lässt sich laut der Konsumentenschützerin nicht vermeiden: «Es gibt immer einen Interpretationsspielraum. Auch mit genaueren Bestimmungen kann das leider nicht verhindert werden.» Wichtig sei dann eben die Gerichtspraxis.
Bundesgerichtsurteil vom 11. August 2025, 8C_411/2024