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Zu starre Auslegung Der Bundesrat soll die Schweizer Neutralität neu denken

Wissenschaftlerinnen, Diplomaten und Politiker präsentieren ein Manifest für eine Neutralität des 21. Jahrhunderts.

Was bedeutet eigentlich die Schweizer Neutralität? Hierzulande lernt es jedes Kind in der Schule: Die Schweiz ist neutral! Nur: Was heisst das eigentlich, neutral zu sein? Spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ringt die Schweiz um ihre Position. Soll man Sanktionen erlassen gegen Russland? Soll man Waffenlieferungen in die Ukraine ermöglichen? Jetzt will eine prominent besetzte Gruppe von Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft die Schweizer Neutralität neu ausrichten. Sie hat ihre Vorstellungen in einem Manifest festgehalten und beschreibt mit einem 10-Punkte-Plan, wie die Schweiz ihre Neutralität künftig ausüben soll.

Wer steht hinter diesem neuen Neutralitäts-Manifest? Zu den Erstunterzeichnenden zählen 87 Personen, darunter zahlreiche emeritierte Rechtsprofessoren, Diplomaten, sowie viele aktive und ehemalige Politikerinnen aus dem National- und Ständerat. Zu den prominentesten Namen zählen die drei alt Bunderäte Joseph Deiss, Kaspar Villiger und Samuel Schmid. Die Unterzeichnenden stammen aus allen politischen Parteien ausser der SVP und den Grünen.

Flagge der UNO und der Schweiz an der Fassade des Bundeshauses.
Legende: Die Flagge der UNO und der Schweiz am Bundeshaus am Jahrestag der 1945 von 50 Staaten unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen. (Archivbild 26. Juni 2020) KEYSTONE / Anthony Anex

Welches ist die zentrale Forderung des Manifests? Neutralität soll künftig in der Schweizer Politik kein Dogma mehr sein, sondern nur noch eines von mehreren Mitteln in der Aussen- und Sicherheitspolitik. Mit einer solchen Definition einer zielorientierten Neutralität wäre es möglich, in einem Krieg den Aggressor anders zu behandeln als das Opfer. Sanktionen gegen den Angreifer wären erlaubt, genauso wie Unterstützungsleistungen gegenüber dem angegriffenen Land. Und es wäre möglich, mit Militärbündnissen wie der Nato zu kooperieren.

Wie werden diese Forderungen begründet? Die derzeitige Auslegung der Neutralität werde im europäischen Ausland immer weniger akzeptiert. Dies schade der Schweiz, weil sie im Ernstfall auf diese Partner angewiesen sei. Die Neutralität habe immer zum Ziel gehabt, die militärische Sicherheit der Schweiz zu garantieren. Wenn nun aber eine zu starr definierte Neutralität dazu führe, dass die Schweiz bei den militärischen Partnern an Glaubwürdigkeit verliere, dann habe die Neutralität ihren Nutzen für die Sicherheitspolitik verloren. 

Gibt es Kritik an diesem Manifest? Ja, und zwar vor allem von der SVP. Die Neutralität sei eines der Erfolgsrezepte der Schweiz und dürfte nicht beschnitten werden. Die Schweiz müsse gegenüber allen Ländern gleich auftreten, sonst sei sie nicht mehr verlässlich. Auch die SVP versucht derzeit die Deutungshoheit über den Neutralitätsbegriff zu erlangen, mit einer Volksinitiative. Diese will unter anderem in der Verfassung verankern, dass die Schweiz gegenüber kriegstreibenden Ländern keine Sanktionen erlassen darf.

Echo der Zeit, 29.05.2024, 18:00 Uhr

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