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Zürcher Langstrasse Vom Sündenpfuhl zum Schickimicki-Quartier?

Das Zürcher Langstrassenquartier verändert sich. Läden, Clubs und Bars werden verdrängt. Und auch Bewohnerinnen und Bewohner.

Ihr Ruf eilte der Langstrasse schon immer voraus: «Er war so negativ, dass ich dachte, ich könne hier nicht leben», sagt Ursula Markus. Um den Hals der 82-jährigen Fotografin hängt eine Spiegelreflexkamera. «Dann habe ich gemerkt, dass das genau so ein Umfeld ist, das ich gerne mag.» Mittlerweile wohnt sie seit fast 30 Jahren im Langstrassenquartier und kann sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben.

Schwarzweiss-Foto: Prostituierte sitzt am Fenster, nur ihre Beine sind zu sehen.
Legende: Szenen aus dem Rotlichtmilieu: Die Fotos von Ursula Markus entstehen in ihrer Nachbarschaft. Ursula Markus

Um ihre Faszination für diese Nachbarschaft auch Anderen weiterzugeben, hat sie einen Fotoband mit ihren Bildern aus dem Langstrassenquartier herausgebracht. Street Photography in Schwarzweiss. Sie zeigt die verschiedensten Menschen, einige sind fröhlich, andere sind gezeichnet von Drogen oder Jahren in der Prostitution.

Das Quartier verändert sich. Nicht zum Guten.
Autor: Ursula Markus Fotografin und Quartierbewohnerin

Ursula Markus schwärmt für das Quartier, vor allem aber für die Menschen hier. Die kulturelle Vielfalt sorge dafür, dass sie weniger Fernweh habe. Doch sie nimmt auch deutliche Veränderungen wahr: «Das Quartier verändert sich. Nicht zum Guten.» Viele kleine Läden seien in den vergangenen Jahren verschwunden, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten könnten.

Quartierläden und Clubs werden verdrängt

Tatsächlich werden alle paar Wochen neue Fälle von Kleinbetrieben bekannt, die aus der Langstrasse und der erweiterten Nachbarschaft verschwinden. Das Onlineportal «Tsüri» hat eine ganze Liste von Läden und Gastronomiebetrieben zusammengetragen, die seit Frühjahr 2023 die Kündigung bekommen haben: der Quartierladen Sindi-Markt an der Josefswiese, ein Schuhreparatur-Service beim Lochergut, das Traditionsfachgeschäft «Andy's Fischershop» sowie das Restaurant Tremondi beim Helvetiaplatz, der Club Zukunft und die Piranha Bar an der Piazza Cella im Herzen der Langstrasse.

Der Gedanke, dass in der Piranha Bar bald die Lichter ausgehen, schmerzt Cheikh Diba ganz besonders. Alle kennen ihn unter dem Namen «Frank» – er ist der bekannteste Türsteher der Stadt. Die Nachricht, dass sein langjähriger Arbeitgeber der Filiale eines Grossverteilers weichen soll, kam vor einigen Monaten: «Es trifft mich noch immer im Herzen.» Frank, der schon manchen angetrunkenen Krawallbruder zur Räson brachte, sieht traurig aus, wenn er das sagt.

«Gentrifizierung passiert einfach»

Das Langstrassenquartier galt lange als Schandfleck in der Stadt. Mit Aufwertungsmassnahmen habe die Stadt dazu beigetragen, dass sie heute ein Ort sei, an dem man leben möchte, sagt Stadtentwicklerin Anna Schindler. Das hat aber auch zur Folge, dass die Mieten steigen. Im Langstrassenquartier liegen sie mittlerweile über dem Durchschnitt der Stadt.

«Mensch Langstrasse» von Ursula Markus, 2004

«Das ist ein Problem», sagt Schindler. Die Stadt besitze keine Wohnliegenschaften an der Langstrasse, deshalb könne sie auch nicht direkt eingreifen. Auch wenn diese Entwicklung nicht im Sinne der Stadt sei, könne sie nicht verhindert werden: «Gentrifizierung passiert einfach.»

Fotografin Ursula Markus glaubt aber nicht, dass die Langstrasse bald zum Schickimicki-Quartier wird: «Es braucht diese Menschen und es braucht so ein Quartier», sagt Markus, die für den Rest ihres Lebens hier leben möchte: «Die Langstrasse wird ewig bleiben.»

Schweiz Aktuell, 3.8.2023, 19 Uhr

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