Chat-Protokoll:
Warum fühlen sich viele Männer so in die Ecke gedrängt, wenn über Gewalt an Frauen gesprochen wird? Häufig liest man Kommentare von Männern wie «Jetzt muss man aber auch mal an die Männer denken» oder «langsam dreht sich der Spiess um und Männer werden benachteiligt». Wir Frauen sagen ja gar nicht, dass alle Männer gewalttätig sind. Woher kommt diese starke Gegenwehr von einigen Männern?
Anja Derungs: Physische, psychische und sexuelle Gewalt passiert sowohl im privaten Bereich – in engen sozialen Beziehungen – als auch im öffentlichen Raum. Frauen und Männer sind auf unterschiedliche Art von Gewalt betroffen, und sie üben auf unterschiedliche Art Gewalt aus. Frauen werden deutlich häufiger Opfer von häuslicher Gewalt. Männer erleben häufiger Gewalt im öffentlichen Raum, ebenfalls durch Männer.
Gewalt gegen Frauen zählt gemäss UNO zur häufigsten Menschenrechtsverletzung und Todesursache. Gründe fürs Ausüben von Gewalt sind Machtausübung, Dominanzgebahren, Durchsetzung von Interessen.
Schuldzuweisungen sind nicht förderlich, um Gewalt zu verhindern und zu bekämpfen. Es braucht eine klare Haltung, dass Gewalt kein legitimes Mittel ist, um (eigene) Interessen durchzuboxen. In der Verantwortung stehen alle, auch wenn das Erleiden von Gewalt eine geschlechtsspezifische Komponente hat.
Wie kann häusliche Gewalt (bis hin zu den schrecklichen Auswüchsen Femizid) präventiv verhindert werden? was lief bei diesen Tätern schief? War es die Erziehung? die Sozialisierung? unsere Gesellschaft? das Schweizerische System? wie werden diese Personen früher erkannt, um Straftaten zu verhindern?
Jérôme Endrass: Es gibt nicht den einen Risikofaktor. Es ist – leider – komplex, sodass die Prävention auch schwierig. Kommt hinzu, dass wir in der Erforschung des Phänomens noch am Anfang stehen und es vieles gibt, dass wir wissenschaftlich nicht einordnen können.
Inwiefern erhofft man sich durch Prävention eine Besserung? Nach meinem Verständnis sieht Max Muster nicht eines Tages ein Plakat und schlägt aus diesem Grund seine Frau nicht. Oder ist das Plakat rein auf die Frau ausgerichtet, dass diese weiss, wo sie sich melden kann? In dem Fall ist es allerdings reine Symptombekämpfung und keine Prävention. Mir fehlt bis heute die Vorstellung wie man sowas mit Prävention bekämpfen möchte.
Jérôme Endrass: Es gibt unterschiedliche Gründe für eine Präventionskampagne. Es kann darum gehen, dass Frauen, die schon Gewalt erlebt haben, wissen, an wen sie sich wenden können. In diesem Fall geht es dann darum, eine weitere Eskalation und einen noch grösseren Schaden zu verhindern.
Es kann aber auch darum gehen, dass Männer, die merken, dass sie gewaltgeneigt sind, in einer Kampagne angesprochen werden, indem auf Beratungsstellen aufmerksam gemacht wird.
Letztlich geht es darum: Jeder Frau, der es früher gelingt, sich aus einer gewaltgeprägten Beziehung herauszulösen ist ein Gewinn. Genauso wie jeder Mann, der bereit ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen, bevor er gewalttätig in Erscheinung tritt.
Ist das Schweizer Gesetz zu lasch? Sind die Strafen zu wenig lang beziehungsweise zu wenig hart in der Schweiz? Man hört ja immer wieder, dass StraftäterInnen kaum eine Gefängnis (Strafe) erhalten und sofort wieder das Gesetz brechen können.
Jérôme Endrass: Ob eine Strafe zu streng oder zu lasch ist, ist sehr stark eine Frage der persönlichen Einstellung.
Wenn man sich die richterliche Urteilspraxis anschaut, dann stellt man fest, dass die Spannbreite der ausgesprochenen Strafen – für das gleiche Delikt – ziemlich weit ist. Das spricht dafür, dass selbst Richter sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Angemessenheit einer Strafe haben.
Wir wissen aus der empirischen Forschung, dass harte Strafen nur beschränkt abschrecken. Sie wirken vor allem auf die Personen abschreckend, die sozial gut integriert sind und sich auch an Gesetze und Normen halten wollen. Bei dissozialen Personen funktioniert die Abschreckung kaum. Länder, die vor allem auf sehr harte Strafen setzen, weisen zudem ein hohes Kriminalitätsvorkommen und hohe Rückfallraten auf.
Strafen sind zweifelsohne notwendig und entsprechen einem Sanktionsbedürfnis der Gesellschaft. Zu hohe Strafen führen aber eher zu überhöhten Kosten und mehr Kriminalität.
Wird in der Schweiz systematischer emotionaler und finanzieller Missbrauch, der oft vor der Gewaltanwendung stattfindet und das Opfer massiv schwächt, als Straftatbestand anerkannt wie z.B. in England? Wenn nein, warum nicht?
Jérôme Endrass: Diese Frage ist von grundsätzlicher Natur und als Fachperson kann ich dazu nur eine Meinung haben, da es letztlich um politische Entscheide geht. Emotionale Misshandlungen, die sich auf das Kindswohl auswirken werden bei uns zivilrechtlich abgehandelt. Das hat auch Vorteile.
Würde man das schneller in den Bereich des Strafrechts rücken, kann es dazu führen, dass man am Schluss weniger für die Opfer machen könnte, weil die Beweislast dann beim Staat liegt.
Aber eben: das ist eine politische Frage.
Warum werden Kinder gewalttätiger Eltern nicht besser geschützt, auch wenn sie nicht direkt selbst Gewaltopfer sind? Kinder zu zwingen, den gewalttätigen Elternteil zu besuchen, normalisiert die Gewalt und macht sie so selbst zu potenziellen Opfern. Warum werden Opfer häuslicher Gewalt bei Drohungen oft nicht ernst genommen und geschützt, wenn der gewalttätige Partner vorher keine physische Gewalt angewendet hat, aber beispielsweise kontrollierend war? Werden die Risikofaktoren systemischen Missbrauches erkannt?
Eigentlich sollten Kinder gewalttätiger Eltern geschützt werden und dem Thema ist in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Es ist allerdings möglich, dass in der Praxis der Fokus noch zu stark auf die Erwachsenen gerichtet wird. Ich persönlich habe das so nicht erlebt.
Drohungen sollten sehr ernst genommen werden und wenn die Anzeige bei einer Person landet, die über die entsprechende Expertise in dem Bereich verfügt, dann funktioniert das auch. Das Problem ist allerdings, dass noch viele Behördenmitarbeitende nicht auf dem aktuellen Wissenstand sind und sie mit der Anzeige bzw. Meldung einer Drohung überfordert sind. Da gibt es Verbesserungsbedarf und der ist auch identifiziert.
Warum ist es für eine Gesellschaft so schwierig, bei häuslicher Gewalt genau hinzuschauen, sie zu benennen und flächendeckend anzugehen? Ich sehe in ihr einen Grundstein zur Gewalt zwischen verschiedenen Parteien/Gruppen, die bis zum Krieg zwischen Völkern eskalieren kann. Geht es im Kleinen nicht, wie soll es im Grossen funktionieren.
Anja Derungs: Häusliche Gewalt geschieht an einem Ort, der eigentlich für Sicherheit, Geborgenheit, Fürsorge und Liebe steht. Sie ist deshalb auch besonders schuld- und schambehaftet. Viele Betroffene getrauen sich nicht, Hilfe und Unterstützung zu suchen, aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird.
Häusliche Gewalt ist kein privates Problem. Es braucht eine nationale Strategie, um Gewalt an Frauen und Kindern und häusliche Gewalt zu bekämpfen und zu verhindern. Das ist kein Wunschdenken, sondern eine Frage – auch der finanziellen – Prioritätensetzung.
Ist Gewalt an Frauen ein männliches Problem?
Jérôme Endrass: Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Insofern ja, als dass die Mehrheit der schweren Gewaltstraftaten gegen Frauen von Männern verübt werden. Nein, unter der Perspektive, dass die meisten Männer keine schweren Gewaltstraftaten verüben. Man kann sich weiter fragen, ob es etwas mit männlichen Rollenbildern zu tun hätte. Auch da ist die Antwort uneindeutig – oder auch differenziert.
Es gibt einen Teil von Männern, die wegen eines bestimmten Rollenbildes gewalttätig in Erscheinung treten. Aber der Grossteil der Männer, die schwere Gewaltstraftaten verüben tun dies aus anderen Gründen.
Was raten Sie einer Frau, wenn sie von ihrem Partner die Drohung erhält, dass er sie zerstückelt und im Wald vergräbt, wenn sie ihn betrügt? Sollte diese Drohung angezeigt werden? Hätte dies Konsequenzen für den Partner, der die Drohung aussprach?
Jérôme Endrass: Wenn eine Todesdrohung ausgesprochen wird und dazu führt, dass Angst ausgelöst wird, dann soll man die Drohung auch zur Anzeige bringen. Bei der Drohung handelt es sich um ein Antragsdelikt, man kann es auch zurückziehen.
Tut man das nicht und erfolgt später eine Verurteilung, dann zieht das selbstverständlich Konsequenzen für die Person nach sich, die gedroht hat.
Der Begriff ‚Femizid‘ wird oft als gezielte Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts verstanden. Wenn jedoch die meisten dieser Fälle im Kontext von Partnerschaftskonflikten entstehen – also nicht, weil die Frau als Frau getötet wird, sondern weil sie die Person ist, mit der der grösste Konflikt besteht – ist die Einordnung als Femizid dann wirklich zutreffend? Sollten wir eher von Partnerschaftsmorden sprechen, um die komplexen Ursachen nicht auf ein Schwarz-Weiss-Schema zu reduzieren?
Anja Derungs: Nein. Häusliche Gewalt ist weder ein Beziehungsproblem noch ein Familiendrama. Häusliche Gewalt ist kein Konflikt auf Augenhöhe.
Wer Gewalt in (Ex-)Partnerschaften und damit auch geschlechtsspezifische Gewalt anwendet, verfolgt ein Ziel: Kontrolle, Macht, Besitzanspruch. Der Begriff Feminizid meint, dass eine Frau getötet wird, weil sie eine Frau ist, also aufgrund ihres Geschlechts. 93% der Opfer von vollendeten Tötungsdelikten sind Frauen. Das zeigt die neuste Zusatzerhebung zu Tötungsdelikten von 2019-2023 (Bundesamt für Statistik).
Die Täter sind überwiegend Männer. In dieser Erhebung wurde bei einem Drittel der Täter von einem „ausgeprägtem Kontroll- und Dominanzverhalten» im Vorfeld des Feminizids berichtet.
Die in der Erhebung sogenannten, «möglichen Auslöser» sind verharmlosend und gefährlich: Statt patriarchale Besitzansprüche und Machtverhältnisse zu benennen, werden «Eifersucht» oder «eskalierter Streit» genannt.
Feminizide sind keine emotionalen Ausrutscher und keine Einzelfälle. Ihr Nährboden ist fehlende Gleichstellung.
Wenn wir über Femizide sprechen, liegt der Fokus verständlicherweise auf weiblichen Opfern. Laut Kriminalstatistik wird jedoch auch jedes Jahr eine erhebliche Anzahl von Männern Opfer tödlicher Gewalt im häuslichen oder partnerschaftlichen Kontext. Warum wird diese Tatsache in der öffentlichen Diskussion so selten thematisiert – und wie können wir eine Debatte führen, die beide Perspektiven berücksichtigt, ohne die Dringlichkeit des Schutzes von Frauen zu relativieren?
Jérôme Endrass: Man sollte die Diskussion auf jeden Fall sowie von ihnen beschrieben führen. Häusliche Gewalt kommt sehr häufig vor. Wenngleich prozentual gesehen deutlich weniger Männer Opfer der häuslichen Gewalt werden, sind absolut gesehen, immer noch sehr viele Männer davon betroffen. Prävention ist kein Nullsummenspiel, d.h. man kann sich um den Schutz von allen durch Gewalt betroffenen Personen kümmern.
Welche Formen von physischer und psychischer Aggression gegen Männer, die von Frauen ausgeht, gibt es? Gibt es einen Zusammenhang zwischen «männlicher» und «weiblicher» Gewalt? Wenn ja, welchen? Wenn ja, welche Rolle spielt dabei der gesellschaftliche Hintergrund?
Jérôme Endrass: Die Gewalt von Frauen gegenüber Männern unterscheidet sich etwas von der Gewalt von Männern gegenüber Frauen. Frauen, die gewalttätig werden, waren häufiger selber Opfer von Gewalt und sind deutlich häufiger psychiatrisch auffällig.
Ausserdem leiden Männer weniger unter der Gewalt von Frauen, wobei das vorwiegend für die Männer gilt, die in einer Beziehung leben, in welcher sie ökonomisch bessergestellt sind. Was man bei beiden Geschlechtern sieht: Je abhängiger jemand von der Partnerin bzw. vom Partner ist, desto stärker leidet man unter der Gewalt.
Warum hilft der Staat erst dann, wenn etwas passiert ist? Bei Drohung durch den Partner, sofort Hilfestellung anbieten. Wenn Frauen um Hilfe bitten, heisst es: wir können nichts machen, solange nichts passiert ist!
Anja Derungs: In der Schweiz gibt es das sogenannte Opferhilfegesetz. Die Opferhilfe unterstützt alle Menschen, die in der Schweiz durch eine Straftat körperlich, psychisch oder sexuell verletzt worden sind.
Drohung ist eine Straftat, wenn Sie beispielsweise in Angst und Schrecken versetzt werden, sei es direkt («Ich bringe dich um!») oder indirekt. Melden Sie sich bei Drohung durch den Partner bei der Opferhilfe.
Die Opferhilfe berät Sie kostenlos, vertraulich und auf Wunsch anonym. Sie können die Beratungsstelle selber wählen. Informationen dazu finden Sie auf https://www.opferhilfe-schweiz.ch/
In einer akuten Notsituation können Sie sich auch bei einem Frauenhaus oder bei der Polizei melden. Mehr Infos zu den Frauenhäusern in der Schweiz: www.frauenhaeuser.ch
Wählen Sie 117 für die Polizei.
Haben Sie genaue Zahlen dazu, welche Bevölkerungsschichten solche Taten begehen? Gibt es Erkenntnisse zu Motiven wie religiösem Hintergrund, finanziellen Problemen, Streit oder Eifersucht? Wie nennt man es, wenn eine Frau einen Mann umbringt? Diesen Ausdruck habe ich bisher noch nie gelesen. Und wie oft bringt eine Frau einen Mann um? Auch diese Zahl wäre wichtig, um sie ins Verhältnis zu den Femiziden setzen zu können. Ebenso interessiert mich, welche Motive dort eine Rolle spielen. Ich gehe davon aus, dass es unterschiedliche Motive gibt und dass es mehr Femizide als umgekehrte Fälle gibt. Aber auch hier gilt: Jeder Tote ist einer zu viel.
Jérôme Endrass: Das sind sehr viele Fragen, die man auf die Schnelle nicht beantworten kann.
Ihr Grundanliegen ist aber sehr berechtigt: wir brauchen gute Zahlen und wir müssen aufpassen, dass wir nicht Vorurteilen unterliegen und ganze Gruppen stigmatisieren. Dazu gehört aber auch, dass wir keine falschen Äquivalenzen schaffen: Männer werden tatsächlich häufig Opfer von Gewalt. Weltweit werden Männer sogar vier mal häufiger Opfer von tödlicher Gewalt als das bei Frauen der Fall ist. Nur sind es dann nicht Frauen, die Männer umbringen, sondern Männer, die andere Männer töten. Mehr Fakten und eine bessere Aufklärung kann hier Abhilfe schaffen.
Was antworten Sie all jenen, die behaupten, dass mit Ausschaffung und rigider Einwanderungspolitik das Problem praktisch gelöst werden könnte?
Anja Derungs: Häusliche Gewalt ist nicht das Problem der anderen. Sie passiert tagtäglich in Schweizer Haushalten, mitten unter uns.
Häusliche Gewalt und geschlechtsspezifische Gewalt sind in unserer Gesellschaft tief verankert. Das zeigen folgende Beispiele: Bis vor kurzem war der Ausdruck, Mord aus Leidenschaft' für Feminizide noch gang und gäbe. Noch immer wird bei Gewalttaten, bei Straftaten im häuslichen Bereich, von Beziehungsdramen gesprochen. Häusliche Gewalt wird damit bagatellisiert und normalisiert. So ist denn auch gewaltfreie Erziehung erst seit Oktober 2025 im Zivilgesetzbuch verankert. Ein Meilenstein für den Kinderschutz!
Wenn doch angeblich Hormone schuld daran seien, dass Männer nun mal faschismusanfälliger, gewalttätiger, risikogefährdeter, zerstörerischer etc. seien, warum wird dann eine Hormon-Behandlung völlig tabuisiert? Bei Frauen sind Hormon-Behandlungen selbstverständlich und etabliert. Hormonelle Hilfen für Männer wären doch ein Segen für sie selbst, für die gesamte Menschheit, ebenso für die Natur.
Jérôme Endrass: Hormontherapien werden bei Sexualstraftätern eingesetzt. Sie sind nicht der «Game-Changer», den sie suggerieren.
Ausserdem ziehen sie massive Nebenwirkungen nach sich. Zudem: Frauen und Männer unterscheiden sich in den meisten psychologischen Dimensionen nicht gross voneinander. Männer sind zwar tatsächlich gewalttätiger, wobei das Alter hier noch eine entscheidende Rolle einnimmt.
Junge Männer weisen das grösste Gewaltrisiko auf und ich denke, dass wir dieser Bevölkerungsgruppe mehr Aufmerksamkeit schenken sollten – ohne etwas an ihrem Hormonstatus zu verändern.
Nach einer versuchten Tötung kann das Rayonverbot gegen meinen Ex-Mann nur durchgeführt werden, wenn ich meine Adresse bekannt gebe. Eine Verletzung des Rayonverbots wird jedoch nicht getrackt. Also fühle ich mich sicher, meine Adresse bekannt zu geben. Elektronische Fussfesseln im Kanton Bern werden nur selten in solchen Fällen bewilligt und auch nur zur Strafverfolgung. Warum gibt es für Gewaltopfer keine Möglichkeit zum Livemonitoring, ob der Täter in seiner Nähe ist? Aktuell lebe ich in Angst. Meine Adresse wurde aus Versehen meinen Ex-Mann bekannt gegeben. Also ziehe ich erneut mit den Kindern um. Danke für die Klärung und Engagement bei diesem überlebenswichtigen Thema
Jérôme Endrass: Das Livemonitoring ist technologisch sehr aufwändig und es braucht eine entsprechende Infrastruktur, um dann auch reagieren zu können, wenn jemand sich nicht an das Rayonverbot hält.
Erste Pilotuntersuchungen haben gezeigt, dass man das nicht kantonal lösen kann. Der Bund kann das Problem auch nicht an die Hand nehmen, sodass einzig eine Verbundlösung aller Kantone gemeinsam funktionieren könnte. Daran versucht man zu arbeiten.
Müsste man dieses patriarchale Thema nicht viel stärker bereits in der Schule, und später auch in der Berufsschule thematisieren? Und auch polizeiliche Vorkommnisse breiter und öffentlich diskutieren. Zudem sollte der ablenkende Begriff 'Femizid' konsequent durch 'Mord' ersetzt werden.
Anja Derungs: Sie haben recht. Bildung als Teil der Prävention ist zentral. Dies sieht auch die sogenannte Istanbul-Konvention vor, zu deren Umsetzung sich die Schweiz verpflichtet hat.
In der Istanbul-Konvention werden politische und rechtliche Massnahmen definiert, die einen europaweit einheitlichen Rahmen für Prävention, Opferschutz und Strafverfolgung schaffen. Gewalt gegen Frauen ist eine Menschenrechtsverletzung. Das Thema gehört damit in jedes Schulzimmer.
Der Begriff Feminizid beinhaltet das Wort Tötung oder Mord in sich. Ein Femizid (auch Feminizid) ist die Tötung einer Frau oder eines Mädchens aufgrund ihres Geschlechts, also weil sie weiblich ist, oft durch einen (Ex-)Partner, und ist die extreme Form geschlechtsbezogener Gewalt, die aus patriarchalen Machtstrukturen und gesellschaftlicher Ungleichwertigkeit entsteht.
Die meisten Opfer von Gewalt sind männlich, die Dunkelziffer von männlichen Opfern von häuslicher Gewalt aufgrund des sozialen Stigmas besonders hoch. Die überwiegende Anzahl der Hilfsangebote, wie z.B. Frauenhäuser, diskriminieren jedoch nicht-weibliche Opfer. Was tut die Politik gegen solche geschlechtsspezifischen Diskriminierungen?
Jérôme Endrass: Opferberatungsstellen diskriminieren nicht und können auch von Männern, die Opfer von Gewalt geworden sind, in Anspruch genommen werden. Der Anzahl der Plätze in Frauenhäusern ist sehr begrenzt und das Konzept ist auf die Gewalt von Männern gegen Frauen zugeschnitten.
Männer, die Opfer von Gewalt werden, können nach Bedarf auch in anderen Wohnsettings untergebracht werden.
Wie gross ist der Anteil in Prozent von Ausländern oder Schweizern mit Migrationshintergrund?
Jérôme Endrass: Die Frage ist sehr allgemein gefasst. Wir haben Daten aus Zürich ausgewertet und da war der Anteil von Ausländern deutlich überrepräsentiert. Bei den Gefährdern waren 59 Prozent Ausländer, wobei damals der Ausländeranteil im Kanton Zürich 25 Prozent betrug.
Zur Frage der Schweizer mit Migrationshintergrund liegen mir keine Daten vor.
Ich bin ein Mann und wurde von einer Frau Opfer von häuslicher Gewalt, vor allem psychisch, aber auch physisch. Mich trifft es enorm, dass nur über Gewalt an Frauen gesprochen wird und ich als Mann automatisch in die Täter-Ecke gestellt werde. Sollten nicht alle Menschen ein Recht auf Schutz haben, unabhängig vom Geschlecht? Vor allem, wenn dazu staatliche Kampagnen gemacht/Hilfen zur Verfügung gestellt werden?
Anja Derungs: Danke fürs Teilen Ihrer Geschichte. Auch Männer erfahren Gewalt. Es war lange ein Tabu, über sexualisierte oder häusliche Gewalt gegen Männer zu sprechen. Auch unter Männern selbst.
Das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit ist ein fundamentales Menschenrecht. So nimmt denn auch die im November lancierte nationale Präventionskampagne gegen häusliche, sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln auf.
Die Kampagne verdeutlicht: Häusliche Gewalt ist weit verbreitet. Alle können betroffen sein.
Frauen haben aber ein erhöhtes Risiko und auch Männer sind betroffen. Gleichstellung verhindert Gewalt. Gezeigt werden Alltagssituationen, in denen Machtungleichheiten und frühe Anzeichen von Gewalt sichtbar werden.
Betroffene finden auf der Website der Kampagne www.ohne-gewalt.ch Informationen, Ratschläge und Unterstützungsangebote, die auf ihre Situation zugeschnitten sind. Der Fokus liegt auf drei Punkten: 1. Aufzeigen, wo Gewalt beginnt, 2. Ermutigen, über Gewalt zu sprechen, 3. Hilfsangebote bekannt machen
Hauptproblem ist ganz klar Migration. Die meisten Fällen kommen aus dieser Richtung. Die Schweiz muss unbedingt Migranten stoppen.
Jérôme Endrass: Wir sehen, dass gewisse Länder deutlich überrepräsentiert sind. Das muss man in der Prävention dringend berücksichtigen.
Es gibt aber auch Länder, die gegenüber den Einheimischen deutlich unterrepräsentiert sind. Insofern ist nicht DIE Migration das Hauptproblem, sondern es sind gewisse Migrationsgruppen, die uns vor Schwierigkeiten stellen.
Weiter muss berücksichtigt werden, dass es zahlreiche weitere Faktoren gibt, die Gewalt begünstigen, sodass die Fokussierung auf einen einzelnen Faktor nicht zielführend ist.
Wenn der menschliche Verstand bricht und das Fass überläuft, hat grundsätzlich jeder das Potential dazu, Gewalt auszuüben. Was treibt einen Menschen dazu in einer Beziehung Gewalt auszuüben und trägt man allenfalls auch eine Mitverantwortung dafür, dass jemand so überfordert ist, dass er zur Gewalt greift?
Jérôme Endrass: Es gibt Personen, da braucht es ganz wenig, dass sie gewalttätig werden. Sie verfügen über eine gewisse Veranlagung und es spielt keine grosse Rolle, wie sich das Gegenüber verhält. Es gibt die Fälle, in welchen sich zwei – ansonsten friedliche – Personen gegenseitig hochgeschaukelt haben und dann die Schwelle zur Gewalt überschritten wird.
Letzteres kommt aber deutlich seltener als Ersteres vor.
Wie kann man nicht-betroffene Männer mit ins Boot holen und sensibilisieren? Mein Partner beispielsweise interessiert sich null für sämtliche Themen, die mit Ungleichheit oder Gewalt gegen Frauen zu tun haben.
Mir ist bewusst, dass er ein Privileg hat, sich nicht dafür interessieren zu müssen. Trotzdem fehlt ein Grossteil der Männer, die patriarchale Gewalt zwar nicht gutheissen, aber sich nicht informieren wollen und auch nicht dagegen einsetzen.
Anja Derungs: Das ist eine wichtige und gesellschaftspolitisch hoch relevante Frage. Wir nehmen Tötungsdelikte hin, wir nehmen es hin, dass junge Frauen nicht mehr in den Ausgang gehen aus Angst, belästigt zu werden. Wir betrachten Tötungsdelikte als Einzelfälle und betrachten nicht das (patriarchale) System und die gesellschaftlichen Machtstrukturen, die dahinter liegen.
Das Ausüben von Gewalt hat letztendlich auch immer zum Ziel, zu isolieren, zu vereinzeln, zu trennen, zu schwächen. Das dürfen wir als Gesellschaft nicht zulassen. Wenn uns unsere demokratisch-liberalen Werte wichtig sind, dann müssen wir deren Grundpfeiler wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichstellung, Gerechtigkeit und Solidarität pflegen. Das kann ein Ansatzpunkt sein.
Gewalt an Frauen, generell Gewalt an Menschen, ist inakzeptabel. Sollten wir aber nicht auch über die Täter sprechen. Meine Frage ist, ob es einen Zusammenhang zwischen kulturellem Hintergrund und Gewaltbereitschaft gegenüber Frauen gibt.
Jérôme Endrass: Den gibt es. Es gibt Länder, in welchen die Häufigkeit der Gewalt mehr als um das Dreifache gegenüber den anderen Ländern erhöht ist. Afghanistan, Sierra Leone und Bolivien werden z.B. von der UNO als Hochrisikoländer genannt.
Wie kann ich einer Bekannten am besten helfen, die physische und psychische Gewalt erlebt durch ihren Partner?
Anja Derungs: Sie als Bekannte spielen eine wichtige Rolle. Überfordern Sie sich aber auch nicht. Häusliche Gewalt ist ein sehr komplexes Thema mit vielen Facetten.
Ihre Handlungsmöglichkeiten hängen auch von der Form der Gewalt, der Beziehung zu Ihrer Bekannten und weiteren Umständen ab. Informieren Sie sich bei einer Fachstelle.
Hilfreiche Tipps finden Sie beispielsweise bei sogenannten «Nachbarschaftsprojekten» wie «Halt Gewalt» oder «Tür an Tür»: https://www.bs.ch/schwerpunkte/halt-gewalt/was-kann-ich-tun-zivilcourage-zeigen-bei-haeuslicher-gewalt-im-umfeld oder https://www.bern.ch/themen/sicherheit/schutz-vor-gewalt/hausliche-gewalt/tuer-an-tuer/gewalt-bei-den-nachbar-innen Seien Sie da, wenn sich Ihre Bekannte Ihnen anvertraut, ohne sich selber in Gefahr zu bringen.
Sie können auch zusammen eine Fachstelle anrufen.
Auf Facebook verbreitet ein SVP-Politiker die These, Gewalt gegen Frauen sei nicht eine Frage des Geldes, sondern der Herkunft – es sei quasi ein importiertes Problem und wenn die «richtigen» Männer in der Schweiz lebten, wäre alles gut.
Ich habe versucht, dagegen zu halten – das patriarchale System, das Männer als besser als Frauen und queere Personen sieht, wobei natürlich weisse Männer ganz oben sind, aber ich hätte gerne Fakten – warum behaupten sie «wider besseres Wissen» Dinge, die unhaltbar sind, aber leider populistisch funktionieren?
Jérôme Endrass: Es ist leider komplizierter und weder politisch rechte noch politische linke Ansichten treffen das Problem umfänglich. Es hat auch mit gewissen Entwicklungen der Migration zu tun und es hat auch mit einem destruktiven männlichen Rollenverständnis zu tun. Und noch mit einer ganzen Menge mehr, wobei wir vieles davon noch nicht richtig verstanden haben.
Es ist auf jeden Fall nicht richtig, das Problem auf einen Hauptfaktor zu reduzieren.
Würden wir die Migration auf null setzen, das Problem würde weiterbestehen und würden wir Kurse anbieten, die Männern die Schwierigkeiten patriarchaler Rollen vermittelt, würde sich wenig ändern (hat man schon versucht).