Chat-Protokoll:
Guten Abend Ich habe das Interview in der „Republik“ mit Tim Guldimann gelesen und bin mit seiner, Aufgrund seiner langen diplomatischer Erfahrung, gemachten Auffassung absolut einverstanden. Das Atomprogramm war und wäre nicht Waffenfähig gewesen. Ich verstehe die offizielle Schweizerpolitik nicht, die sich, wie in den letzten Jahrzehnten feige verhält und nicht den Mut hat klar darauf hinzuweisen, dass hier das internationale Völkerrecht verletzt wird.
Evelyne Schmid: Guten Abend, ich kenne das Interview (noch) nicht und kann deshalb nicht dazu Stellung nehmen. Aber ich kann aus völkerrechtlicher Sicht etwas zur Frage sagen, was es bedeutet, wenn andere Länder reagieren oder nicht reagieren, wenn Völkerrecht verletzt wird. Wenn ein Staat gegen das Gewaltverbot in der Uno-Charta verstösst (wie z.B. Russland in der Ukraine, die USA in Irak und nun Israel und die USA in Iran oder damals im Völkerrechtsbund Italien in Abessinien) dann ist es wichtig, dass die anderen Staaten reagieren und Verstösse auch als solche benennen. Denn so stärken sie die Regel und betonen ihre völkerrechtliche Auffassung, dass ein Verhalten gegen das Gewaltverbot verstösst, also dass es diese Regel gibt und dass sie wichtig ist. Wenn sich Drittstaaten nicht äussern oder nur sehr vage, dann ist dies nicht oder viel weniger der Fall und später können andere Staaten behaupten, dass sich die Regel vielleicht geändert habe, weil sie im Fall XY ja auch nicht eingehalten worden sei. Das ist gefährlich, weil eine Erosionsgefahr besteht.
Warum wird so intensiv über diese Krisengebiete informiert? Warum wird über jede Entscheidung von Trump und Netanjahu und seit einigen Tagen von Chamenei beinahe live berichtet? Die BürgerInnen dieser Staaten wie auch aller anderen Staaten haben keinen Einfluss darauf. Information und Bildung scheinen gescheitert. Demonstrationen und öffentliche Statements von “normalen” Menschen finden kein Gehör. (Normal=kein politisches Amt oder kein Superreicher). Unsere Schweizer Diplomatie scheint auch nicht mehr erfolgreich zu sein, weil Regeln fast keine Rolle mehr spielen für die Mächtigen. These: Weniger Infos würden vermutlich gleich viel bewirken!
Marco Sassòli: Zumindest auf meinem gebiet, dem humanitären Völkerrecht, haben die Medien, wenn sie sich nicht manipulieren lassen und den Hass anfachen, eine wichtige Mobilisierungswirkung. Ich bin eher entsetzt, wie wenig über andere Konflikte, wie Kongo, Sudan, Südsudan, Myanmar, Westsahara etc berichtet wird.
Simon Wolfgang Fuchs: Aus europäischer Warte wirkt Israel immer noch als Aussenposten der westlichen Welt. Das ist natürlich historisch bedingt – Shoah und Flucht spielen da ebenso eine Rolle wie ein religiöses Interesse am Heiligen Land. Für europäische Beobachterinnen war es sehr leicht, sich in die Opfer des Nova Musikfestivals hineinzufühlen – das hätten auch «wir» sein können. Dazu kommt dann auch der Nahe Osten als das «Andere», als eine Region die anscheinend von irrationaler Politik und schrägen Scheichs bestimmt wird – oder von «irren Mullahs», so die Wahrnehmung. Sowohl Netanjahu als auch Trump sind zudem politische Profis – sie wissen genau, wie Botschaften verkauft werden müssen – was wohl auch den israelischen Versuch erklärt, den Kampf gegen die Hamas nach dem 07. Oktober oder die Angriffe gegen das Atomprogramm des Iran als selbstlose Tat «für uns alle» zu präsentieren. Ich bin selbst immer wieder über das nicht nachlassende Medieninteresse erstaunt – man muss aber fairerweise auch sagen, dass in den letzten zwei Jahren so viele schier unglaubliche Plottwists geschehen sind. Man bedenke nur die Ermordung von Ismail Haniyeh, dem Hamasanführer in Teheran, die Pagerattacken, der Fall des syrischen Regimes, der Krieg mit Iran etc. Zudem hören wir permanent seit zwei Jahren, dass es in der nächsten Woche gute Nachrichten geben werde – auch das hält das Publikum bei Stange (und meist wird es dann eigentlich nur schlimmer).
Was wären langfristige Lösungen, um den immer wieder aufkeimenden Konflikt zu Lösen oder zumindest zu entschärfen?
Evelyne Schmid: Das ist natürlich die ganz, ganz grosse Frage und wer sie beantworten könnte, und v.a. die Antwort dann auch umsetzen könnte, auf die oder den wartet wohl ein Nobelpreis in Stockholm. Ich beginne einfach mal mit einem Punkt zum Völkerrecht und hoffe, andere Experten ergänzen dann mit weiteren Gesichtspunkten. Die Uno-Charta wurde verabschiedet, um die Generationen nach dem zweiten Weltkrieg von der «Geissel des Krieges» zu verschonen; das humanitäre Völkerrecht wurde geschaffen, damit es trotz der Existenz von Kriegen wenigstens einen gewissen Schutz der Zivilbevölkerung gibt und die Menschenrechte wurden geschaffen, damit wir dem Gedanken besser Rechnung tragen können, dass alle Menschen «frei und gleich an Würde und Rechten geboren» werden. Genau diese Gedanken könnten uns auch heute noch weiterbringen. Wenn das Völkerrecht eingehalten würde und die Drittstaaten engagiert darauf beharren würden, dann hätten wir immer noch längst nicht alle Probleme gelöst, aber wir haben Gründe zu denken, dass die Lage der Bevölkerungen besser wäre, und mehr Raum bestünde für langfristige Lösungen. Für Israel bedeutet dies, dass es sich aus allen besetzen Gebieten zurückziehen muss, weil seine Präsenz dort völkerrechtswidrig ist. Oder dass eine Lösung auf dem Verhandlungsweg gefunden wird, welcher die palästinensische Bevölkerung in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung zustimmt. Man kann dies nun auf zwei Arten interpretieren: man kann das Völkerrecht als reine Einschränkung oder als Korsett sehen, weil es Spielräume insbesondere der Stärkeren einschränkt. Die andere Leseart ist die Idee, dass die Einhaltung der gemeinsamen Regeln des Völkerrechts dabei hilft, Eskalation zu verhindern und somit die Sicherheit und Freiheit aller stärkt. In der Präambel der Uno-heisst es, wie die Staaten durch die Einhaltung von Völkerrecht und Zusammenarbeit Lebensbedingungen «in grösserer Freiheit» schaffen sollen. In Bezug auf Israel wurde diese Sicht von Ronen Steinke im Tagesanzeiger kürzlich so zusammengefasst: «Ein Blick auf das Völkerrecht hätte Israel vor schlimmen, historischen Fehlern bewahrt, die auch seine eigene Sicherheit letztlich untergraben.» Das Gleiche lässt sich natürlich für die Hamas sagen: ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen erschüttert das Gewissen der Menschheit, ist nie gerechtfertigt und hilft nicht weiter. Ich möchte auch noch die sog. Genfer Initiative erwähnen, welche 2003 ausgearbeitet wurde. Leider sind die Bedingungen für eine Umsetzung auch nur von Teilen denkbar schlecht (und schlechter als 2003), aber sie zeigt, dass es durchaus Ideen gab, welche von betroffenen Politikern ausgestaltet wurden und manchmal auch unter schwierigsten Bedingungen auf allen Seiten Menschen zu finden sind, welche an einer Lösung interessiert sind. https://de.wikipedia.org/wiki/Genfer_Initiative
Simon Wolfgang Fuchs: Ich denke, wir sollten natürlich die Hoffnung für den Nahen Osten nicht aufgeben. Schnell sind wir versucht, Konflikte als unlösbar und uralt zu bezeichnen. Ein gutes Beispiel ist die ganze Frage von sunnitisch-schiitischen Spannungen, die uns zu Hochzeiten des iranischen Einflusses in der Region und dem Erstarken des sogenannten Islamischen Staats stark beschäftigt haben. Die theologischen und rechtlichen Differenzen sind immer noch da, heutzutage sind diese Konflikte aber in den Hintergrund getreten. Ähnlich liegen die Dinge eigentlich grundsätzlich gut, dass Israel als attraktiver Markt und Hightech-Nation sich in die Nachbarschaft noch viel stärker integrieren könnte. Im September 2023 sah alles danach aus, als ob eine Normalisierung mit den Saudis mit den Händen zu greifen wäre. Israel ist dabei aber auch der falschen Vorstellung aufgesessen, dass die palästinensische Frage sich eigentlich erledigt hat und «gemanaged» werden kann. Der brutale Angriff der Hamas hat diese Hoffnungen hintertrieben. Seitdem hat sich Israel allerdings aber auch für eine Politik der kompromisslosen Härte und des humanitären Disasters entschieden, welche die ausgestreckte Hand arabischer Staaten ausgeschlagen hat. Und es scheint, als ob für die derzeitige israelische Regierung eine Wiederbesiedelung von Gaza höhere Priorität als eine regionale Friedensordnung hat.
Inwieweit sind die US-Luftangriffe auf iranische Atomanlagen unter dem Völkerrecht gerechtfertigt, insbesondere im Hinblick auf die Prinzipien der Verhältnismässigkeit und der Notwendigkeit?
Marco Sassòli: Wenn die israelischen Angriffe nicht als Sebstverteidigung gerechtfertigt ware, waren es diejenigen der USA sicher auch nicht. Was das humanitäre Völkerrecht betrifft, waren die Ziele der USA soweit ich das sehe die Waffenaufbreitungsanlage von Forbo, was nicht das humanitäre Völkerrecht verletzt, während Israel auch zivile Ziele angriff, die dem Regime nahestehen oder eine symbolischen Wert haben, was vom humanitären Völkerrecht verboten ist.
Wie rechtfertigt Israel seine militärischen Aktionen gegen den Iran, und welche Rolle spielt dabei die Abschreckung gegenüber iranischen Militär- und Atomprogrammen?
Roland Popp: Mit dem Recht auf Selbstverteidigung, wobei es so gut wie niemanden aus dem Völkerrecht gibt, der dies hier als anwendbar betrachtet. Israel verfolgt politisch die Begin-Doktrin, die darauf ausgerichtet ist, eine zweiter Atommacht im Nahen Osten ach Israel zu verhindern, nötigenfalls mit Gewalt, letzteres bereits umgesetzt gegenüber Irak, Syrien und Libyen. Israel ist überzeugt, dass die zivilen Atomprogramme immer nur Täuschung sind, wie es ja auch auf das eigene Programm zutraf. Der Staatsgründer Ben-Gurion versprach der Weltgemeinschaft 1960, dass Israel keinerlei militärische nukleare Absichten habe, eine Täuschung, denn bereits 1967 überschritt Israel die nukleare Schwelle. Sollte Iran nun tatsächlich ebenfalls die nukleare Akquisition umsetzen, also sich ein nukleares Arsenal zulegen, dann könnte sich ein Gleichgewicht des Schreckens etablieren wie zwischen den USA und der Sowjetunion im Kalten Krieg. Viele israelische Strategen sehen dies im Übrigen nicht allzu dramatisch und schätzen die Islamische Republik als rational und in internationalen Dingen als konservtaiv ein. In der israelischen Politik sieht das freilich anders aus.
Wie gross ist die Gefahr, dass sich der Konflikt zu einem grossflächigen Krieg im Nahen Osten ausweitet, und welche Faktoren könnten eine solche Eskalation verhindern?
Simon Wolfgang Fuchs: Diese Gefahr sehe ich eigentlich nicht. Unmittelbar nach dem 07. Oktober stand dieses Szenario im Raum – eine versuchte Überwältigung Israels durch die Hisbollah, durch die Houthis, durch schiitische Milizen im Irak und den Iran selbst. Aber es wurde recht deutlich, dass Iran und seine Verbündeten nur sehr kalkuliert in den Krieg eintreten wollten – also nicht «all in» gegangen sind. Trotz aller Zerstörung im Norden Israels und der temporären Vertreibung von fast hunderttausend Menschen hat die Hisbollah ihr Raketenpotenzial nicht ausgeschöpft sondern vor allem auf Panzerabwehrgranaten mit geringer Reichweite gesetzt. Israel wiederum hat dann nach und nach die iranische Präsenz in Syrien attackiert und die Hisbollah vorläufig als militärischen Faktor eliminiert – wobei wir auch festhalten müssen, dass die Pagerattacken bei weitem nicht so «klinisch rein» verlaufen sind, wie das die israelische Seite suggerierte. Damit verbleiben noch die Houthis, die weiterhin Raketen gen Tel Aviv schicken, aber militärisch kein wichtiger Faktor sind. Anstelle eines grossen Krieges in der Region sehe ich eher eine Annäherung zwischen den Golfstaaten und Iran. Auch wenn man in Saudi-Arabien und anderswo die israelischen Angriffe auf Iran öffentlich verurteilt und insgeheim gutgeheissen hat, hat man kein Interesse an einer völligen Destablisierung und Chaos in Iran. Die letzten Jahre hat man sich bereits angenähert und wieder Beziehungen aufgenommen. Ich kann mir vorstellen, dass dieser Prozess weitergehen wird, auch um einer absoluten israelischen Vormachtstellung in der Region entgegenzutreten...
Warum wurde in den Angriffen ein Gefängnis bombardiert, in dem vor allem politische Gefangene einsitzen? Liegt das daran, dass da vor allem Gefangene aus dem linken Spektrum einsitzen, die schon lange auch die Sache der Palästinenser unterstützen? Israel und USA aber vermutlich vor allem Anhänger des alten Schah Regimes als künftige Regierung sehen? Israel und USA also gar nicht so sehr ein neues, sondern vielmehr ein altes Regime möchten? Das würde dann auch passen dazu, welche Exiliraner hier in Deutschland und der Schweiz die Bombardierung befürworten. Auch das scheinen mir meistens Anhänger des alten Schah-Regimes zu sein.
Marco Sassòli: Dies ist in der Tat eine eindeutige Verletzung des humanitären Völkerrechts, selbst wenn Israel, wie es behauptet, eine Befreing der Gefangenen bezweckte, um dann einen Austand gegen die gegenwärtige Regierung zu erleichtern.
Israel will unter keinen Umständen eine 2-Staaten – Lösung und die Palästinenser werden aus Gaza und Westjordan vertrieben werden. Trump ist einverstanden. Die Welt schaut ohnmächtig zu oder gibt es noch eine andere Lösung?
Simon Wolfgang Fuchs: Eine Zweistaatenlösung, obwohl sie weiterhin das Mantra westlicher Politik ist, erscheint derzeit schlicht unmöglich. Die Siedlergewalt der vergangenen Tage und die massive Ausweitung israelischer Siedlungen zeigt, dass im Westjordanland die Politik weniger eine Vertreibung ist als der Ansatz, palästinensische Dörfer und Städte so durch Siedlungen und Checkpoints zu umzingeln, dass jegliche Bewegungsfreiheit oder wirtschaftliche Entwicklung eigentlich unmöglich ist. Derzeit winken Trump und die israelische Regierung sowie israelische Thinktanks allerdings mit einem grossen Durchbruch, der all dies verändern soll: die Ausweitung der sogenannten «Abraham Accords» auf Libanon, Syrien und Saudi-Arabien. Damit wäre sowohl das Versprechen verbunden, dass keine Vertreibungen aus Gaza stattfinden, sondern dort arabische Regierungen die Verwaltung übernehmen und den Wiederaufbau finanzieren. Auch macht Saudi-Arabien eine glaubwürdige Roadmap zu palästinensischer Staatlichkeit zu einer Bedingung. Dennoch erscheint mir diese Perspektive gerade nicht realistisch, zu gross ist die Sorge, dass Israel dies nur als Feigenblatt zur Fortsetzung seiner Politik nutzen würde. Ich glaube, die Lage in Gaza hat so nachhaltigen Schaden in der Region angerichtet, dass ich kein Abkommen in greifbarer Nähe sehe. Wir werden uns also wohl auf ein unerträgliches Hinziehen der Situation einstellen müssen.
Welche konkrete Rolle spielt die Schweiz derzeit im Spannungsfeld zwischen Iran, Israel und den USA? Nutzt sie ihr Schutzmachtmandat und ihre Tradition der Guten Dienste aktiv zur Vermittlung, oder beschränkt sich ihr Engagement derzeit auf formale Kanäle? Falls die Vermittlungsrolle nicht aktiv wahrgenommen wird: Welche politischen, diplomatischen oder strategischen Hindernisse stehen dem entgegen – und welche Ansätze wären erforderlich, um die Schweiz wieder als glaubwürdige und neutrale Vermittlerin im Nahen Osten zu positionieren?
Marco Sassòli: Zwischen Iran und Israel/USA: Jenseits der Übermittlung von Botschaften, die durchaus ihre Bedeutung hat, braucht es für eine Vermittlung den Willen beider Parteien, zu verhandeln oder Druckmöglichkeiten, welche die Schweiz nicht hat. Ausserdem will sie es sich wohl mit der Trump-Administration nicht verderben. Schliesslich stehen viele andere Vermittler bereit. Im Konflikt um die israelisch besetzten Gebiete wollen weder Israel, noch die USA noch Hamas eine Zweistaatenlösung und ich habe keinen anderen Vorschlag für eine Lösung. Die Schweiz könnte aber wohl mehr tun, um zu humanitären Fragen zu vermitteln, obohl diese wie überall manipuliert werden. Ich weiss aber nicht, was sich im geheimen tut.
Wie ist Ihre Einschätzung in Sachen Eskalation. Welche Regierung würde am ehesten die Nerven verlieren? Wäre bereit einen 3. Weltkrieg anzuzetteln, inklusive der Anwendung von Nuklearwaffen. USA, Israel, Iran oder Russland?
Roland Popp: Gegenwärtig hält der Waffenstillstand, doch hatte man von israelischer Seite bereits gewarnt, man behalte sich die Option bei, jederzeit wieder den Iran bombardieren zu können. Allerdings droht für diesen Fall erneuter Raketenbeschuss vonseiten Irans. Das Problem aus israelischer Sicht ist, dass Iran nun die kommenden Monate dazu nutzen wird, die eigene Luftverteidigung wiederaufzubauen. Ein erneuter Angriff nach dem vorherigen Muster wäre dann wohl kaum durchführbar. Somit schliesst sich für Israel langsam ein Fenster, während gleichzeitig nun ein tatsächliches iranischen Nuklearwaffenprogramm im Verborgenen droht. Es zeichnet sich in der Tat ab, dass sich der israelische Angriff als gravierende Fehleinschätzung herausstellen wird. Eskalationspotential bietet auch die Lage an der Nordgrenze nach der ziemlich offenkundigen Begünstigung des israelischen Angriffs durch Aserbaidschan, das zugleich in einen Konflikt mit Russland gerät.
Welche Auswirkungen haben Sanktionen auf die Bevölkerung im Iran?
Simon Wolfgang Fuchs: Die wirtschaftliche Lage in Iran ist katastrophal – trotz Öl- und Gasreichtum ist das BIP seit 2012 nach Daten der Weltbank um 45% zurückgegangen (https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD?locations=IR). In den Daten kann man recht schön die Erholung sehen, die mit dem im letzten Jahre der Obama-Administration verbundenen Atomabkommen verbunden war. Seitdem geht es wieder steil bergab. Die desolate wirtschaftliche Lage hat aber nicht nur mit Sanktionen zu tun – hinzu kommen auch Korruption und die Tatsache, dass weite Teile der Wirtschaft gar keinem freiem Spiel des Marktes unterliegen, sondern beispielsweise den Revolutionsgarden unterliegen. Obwohl es in den Sanktionen eigentlich Ausnahmeregelungen für den Medizinsektor etc. geben sollte, ist es in der Realität für iranische Krankenhäuser recht schwer möglich, den Import von medizinischem Gerät zu organisieren. Hier spielen gerade die Sanktionen gegen iranische Banken eine grosse Rolle. Konkrete Auswirkungen sehen wir auch in Bezug auf Krebsmedikamente etc.
Welche Rolle spielt Jerusalem in den aktuellen Auseinandersetzungen?
Simon Wolfgang Fuchs: Die Rolle von Jerusalem stand natürlich im 07, Oktober im Mittelpunkt – nicht umsonst hat die Hamas ihren Angriff und ihren Massakern an diesem Tag die Bezeichnung «Al-Aqsa Flut» gegeben und sich auf Verletzungen der Unversertheit des gesamten Haram al-Sharif/Tempelberg Areals bezogen. Die Befürchtungen waren daher auch hoch, dass die Stadt in ihrer Nähe zur Westbank zum Zentrum der sich entladenden Spannungen geraten könnte. Paradoxerweise war Jerusalem aber wohl der ruhigste Ort von allen im Auge des Sturms – weder die Houthis im Jemen, noch die Hisbollah, noch der Iran haben es gewagt, ihre Raketen dorthin zu richten – gerade aus der Angst heraus, die heiligen Stätten zu treffen. Auch schlägt die israelische Politik durch, Jerusalem bewusst kulturell, wirtschaftlich und auch im Bildungsbereich vom Westjordanland abzutrennen. Palästinenserinnen und Palästinenser aus Ostjerusalem besitzen nicht die israelische Staatsbürgerschaft und lernen auch oft erst relativ spät (und nicht in der Schule) hebräisch, orientieren sich dann aber in Sachen Arbeitsaufnahme etc. stark nach Israel hin. Diese Verflechtung, das tägliche Zusammenleben – selbst wenn man eigentlich wenig teilt und das nicht heisst, das man sich mag – hat dazu geführt, dass die Stadt durch all diese Jahre hindurch erstaunlich «normal» funktioniert hat.
Der israelische Staat wurde nach dem WWII durch die Hilfe westlicher Mächte gegründet. Wird mit diesem Hintergrund dessen Existenz grade bei der aktuellen jahrelangen Diskriminierung von Palästinensern nicht zurecht angezweifelt?
Simon Wolfgang Fuchs: Wenn wir uns in die unmittelbare Gründungszeit hineinversetzen, dann fällt auf, dass die grösste Unterstützung zu Beginn aus der Sowjetunion kam. Auch die Tschechoslowakei lieferte Waffen, lange bevor sich die USA zu einem solchen Schritte durchrangen. Israel war mit seiner linksgeprägten Regierung westlichen Staaten erst einmal lange Suspekt. Der deutsche Bundeskanzler Adenauer schlug auch israelische Normalisierungsanfragen Mitte der 1950er Jahre aus, getrieben von der Sorge, dass dies deutsche Exporte in die arabische Welt beeinträchtigen könnte. Bis 1967 galt Israel in vielerlei Hinsicht als Underdog, als Teil der Dritten Welt. Das änderte sich erst entscheidend mit dem Triumph im Sechstagekrieg, der auch für religiöse Kräfte und den ultraorthodoxen Teil der israelischen Bevölkerung den Staat mit einer Mission auflud – davor war man sehr skeptisch. Für die palästinensische Bevölkerung innerhalb Israels hatte 1967 die Konsequenz, dass das Militärrecht aufgehoben wurde und man Staatsbürger werden konnte – allerdings liegt in 1967 auch der Keim der Besatzung und der Besiedelung des Westjordanlandes.
Welche historischen Wurzeln haben die Konflikte zwischen Iran, Israel und den USA?
Roland Popp: Eine komplexe Frage. Iran und die USA waren sehr freundlich gesinnte Staaten bis zur Revolution von 1978/9, auch formale Verbündete seit 1959. Unter der Monarchie des Schahs waren die Vereinigten Staaten die engsten Verbündeten, Iran einer der grössten Käufer westlicher Waffensysteme in der Welt. Allerdings halfen die USA dem Schah auch bei der Unterdrückung der iranischen Opposition, wobei der Sturz des demokratisch gesinnten Minisiterpräsidenten Mossadegh 1953 durch CIA und MI6 nur das bekannteste Beispiel dieser Einmischung war. Der Weg der demokratischen und liberalen Kräfte zur Macht im Iran wurden vonseiten der USA verhindert, die Durchsetzung einer radikalen islamistischen Opposition wurde dadurch begünstigt. Für Khomeini und seine Anhänger waren die USA der «grosse Satan», der Feind schlechthin, und es kam in der Folge immer wieder, bis heute, zu Konflikten und Zusammenstössen. Sehr entscheidend ist die tiefe Involvierung der USA und des Westens in chemische Kriegführung des Iraks gegen Iran in den 1980ern. Unter dem Schah war das Verhältnis mit Israel eng, wenn auch nicht de jure. Gerade im Waffenbereich, aber auch bzgl. geheimdienstlicher Methoden arbeitete man eng zusammen. Auch nach der Revolution bemühte sich Israel um eine Aufrechterhaltung der Allianz, so war Israel in den 1980ern wohl weiter der wichtigste Waffenlieferant. Seit den frühen 1990ern aber sieht Israel den Iran als den Hauptwidersacher in der Region und es folgte ein jahrzehntelanger Schattenkrieg der beiden Mächte.
Sind die militärischen Aktionen von Israel und Iran völkerrechtskonform?
Marco Sassòli: Meines Erachtens ist der israelische Angriff auf Iran völkerrechtlich nicht gerechtfertigt. Israel beruft sich auf ein Recht zur präventiven Selbstverteidigung. Die iranische Rhetorik fordert in der tat immer eine vernichtung israels, aber ein Angriff stand nicht unmittelbar bevor. Es gibt im Völkerrecht keine Berechtigung zur Waffengewalt zur Bestrafung für früheres handeln, nur ein Recht unmittelbar auf einen Angriff zu antworten um ihm ein Ende zu setzen. Israel kann ausserdem anführen, dass ein Krieg zwischen Israel und Iran schon existierte. Meines Erachtens lebt das Gewaltverbot der UNO-Charta aber mit jeder genügend langen Unterbrechung der Feindseligkeiten wieder auf.
Wie leiden die Zivilbevölkerungen unter den jüngsten Konflikten?
Marco Sassòli: Die palästinensische sehr, die iranische ein wenig (abgesehen von der geringeren Aussicht auf ein Ende de Sanktionen) die Israelisch noch weniger (seit dem 8. Oktober 2023). Aber Kriege führen immer zu Leiden unter der Zivilbevölkerung, einfach wàren sie geringer, wenn das humanitäre Völkerrecht eingehalten würde. Ausserdem kann das Leiden der einen nicht dasjenige der anderen rechtfertigen und noch weniger können Verletzungen des humanitären Völkerrechts der einen Seite solche der anderen Seite rechtfertigen.
Simon Wolfgang Fuchs: Ein grosser Unterschied in der Sichtbarmachung von Leiden der Zivilbevölkerung sind auch die konkreten Namen und Personen, die wir mit Leiden verbinden können. Die herzzerreissenden Schicksale von israelischen Geiseln und der Opfer des 07. Oktobers wurden sehr detailliert berichtet. Ähnliches hat sich fortgesetzt bei den jüngsten iranischen Angriffen auf das dichtbesiedelte israelische Küstengebiet. In recht kurzer Zeit hatten wir hier Fotos und Namen von Personen, die durch direkte Einschläge oder Splitterteile zu Tode gekommen sind. Wir hören Geschichten über Familien, denen nur 15 Minuten bleibt, um Familienerbstücke und geliebte Habseligkeiten aus den Trümmern zu bergen, bevor das Haus gleich abgerissen wird, damit keine Narbe in Tel Aviv bleibt. Auch von iranischen Medien und Nutzerinnen und Nutzern der sozialen Medien haben wir viel über Einzelschicksale erfahren – wie über eine iranische Dichterin, die die Nähe Ihres Apartments zu einem Funktionär der Revolutionsgarden mit dem Leben bezahlt hat als «kollaterales Opfer». Oder über die Philantropin Hasti Mohammadi, die beim Angriff auf das Evin Gefängnis gestorben ist und sich dort Berichten nach für die Freilassung von Mitgefangenen eingesetzt hat. Von der palästinensischen Seite bleiben hingegen meist nur unbegreiflich hohe Opferzahlen, welche uns auch das Hineinfühlen in diese Lebensrealitäten erschweren. Es erscheint fast so, als möchten wir gar nicht dem Leid individuell ins Auge sehen. Das ist wohl auch der Grund, warum die israelische Polizei die Anweisung erhalten hatte, Bilder getöteter palästinensischer Kinder bei Protesten in Tel Aviv und anderswo zu konfiszieren. Viele Israelis machen da aber nicht mit und halten bewusst diese Namen und Fotos hoch, als Gegenbewegung gegen die Dehumanisierung des Anderen.
Wie wirkt sich die öffentliche Meinung in den USA und Europa auf die Politik gegenüber Iran und Israel aus?
Simon Wolfgang Fuchs: Die öffentliche Meinung zu beziffern, empfinde ich als gar nicht so leicht. Wir haben in Europa und den USA Umfragen, die gerade unter jüngeren Menschen eine zunehmend kritischere Haltung gegenüber dem Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza und in der Region nahelegen. Aber inwieweit ist das eine Thema, das die Menschen wirklich umtreibt – im Vergleich, zum Beispiel zu hohen Strompreisen? Durch die aufgeheizte Stimmung in den sozialen Medien (ich sehe das auch an den vielen Accounts, denen ich folge) und zum Beispiel im Nachgang zu den Vorfällen am Festival von Glastonbury kann der Eindruck entstehen, «Free Palestine» sei eine Herzensangelegenheit für viele. Mein Eindruck ist eher, dass ein Grossteil der Menschen sich sehr unsicher ist, wie sie ihre Meinung ausdrücken können (oder sollen). Selbst wenn kritischere Stimmen sichtbar werden, scheint sich das in Europa mit Ausnahme von Spanien, Irland, und Belgien weniger in Regierungshandeln zu übersetzen. Die USA gehen zudem in der Kriminalisierung von solchen Aussagen noch einen repressiveren Weg. Was den Iran anbelangt, so hat Teheran als langjähriger Feind der USA gar keinen guten Stand dort. In Europa sind die Stimmen für eine differenzierte Sicht auf den Iran auch nicht unbedingt laut. Selbst in öffentlich-rechtlichen Medien reden wir ja gerne vom «Mullah-Regime» – da scheint ein Ausgleich, eine echte Verhandlung gar nicht möglich. Zudem sind viele ExilIranerinnen und -Iraner aus sehr verständlichen Gründen an einer sehr harten Haltung gegenüber der Islamischen Republik interessiert.
Wie ist die Rolle von Saudi-Arabien in diesem Konflikt? Es gab ja mal Annäherungen in den letzten Jahren
Marco Sassòli: Saudi-Arabien möchte sich, auch um den USA zu gefallen, Israel annähern, kann es aber angesichts seiner öffentlichen Meinung und derjenigen in der muslimischen Welt, deren (religiöser) Führer es sein will, nicht (offen) tun, solange die palästinenserfrage nicht gelöst ist.
Was bedeutet der Atomdeal mit Iran für die aktuellen Spannungen? Danke!
Roland Popp: Falls SIe sich auf den «Atomdeal» von 2015 beziehen, so ist dieser seit dem amerikanischen Rückzug währen der ersten Trump-Administration hinfällig. Es bestehen gegenwärtig Hoffnungen auf eine Neuverhandlung, doch haben die militärischen Operationen kaum die notwendige Vertrauensbasis geschaffen.
Warum ist ausgerechnet Iran der grosse Rivale von Israel? Und was bedeutete dies für die sunnitischen und schiitischen Beziehungen der jeweiligen Länder?
Marco Sassòli: Zwei Gründe: 1. Es sind die wichtigsten Mächte im Mittleren Osten 2. Seit der islamischen Revolution in Iran will Iran der Führer aller Muslime sein und zeigen, dass er sich wirklich für die Palästinenser einsetzt. Iran hat beste Beziehungen mit schiitischen Gruppen (aber auch mit dem sunnitischen Hamas), Israel, wenn überhaupt, Beziehungen mit sunnitischen Staaten. Fast alle muslimischen Palästinenser sind aber Sunniten und trotzdem das Hauptproblem für Israel.
Welche Rolle können Schweiz und Europa bei der Konfliktlösung spielen?
Marco Sassòli: Wie bei anderen Konflikten, Sanktionen gegen Staaten, Gruppen und Individuen ergreifen, die eine Konfliktlösung verhindern oder, solange der Konflikt andauert, im Konflikt das humanitäre Völkerrecht verletzen.
Welche Rolle spielt die UNO im Nahostkonflikt?
Marco Sassòli: Die UNO kann weitgehend nur machen, was ihre Mitglieder zulassen und nur der Sicherheitsrat kann Zwangsmassnahmen beschliessen, ist aber wegen des Vetorechts der ständigen Mitglieder beschlussunfähig. Alle Uno-Organe spechen und berichten aber viel intensiver über den nahostkonflikt als über irgen einen anderen, und zwar in einer Weise, die Israel für parteiisch hält