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Fragen und Antworten «Wie könnte ein Russland nach Putin aussehen?»

Die SRF-Korrespondenten Judith Huber und Calum MacKenzie haben Ihre Fragen zum Ukraine-Krieg beantwortet.

Noch immer tobt der Krieg in der Ukraine, rund zweieinhalb Jahre nach der russischen Invasion. Was sind aktuell die wichtigsten Ereignisse? Wie ist die sogenannte Kursk-Operation der ukrainischen Armee einzuschätzen, wie der neuste massive Luftangriff der russischen Armee mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen?

Die SRF-Korrespondenten Judith Huber und Calum MacKenzie haben Ihre Fragen zum Ukraine-Krieg beantwortet.

Chat-Protokoll:

Wie könnte ein Russland nach Putin (oder nach dem Krieg) aussehen?

Calum MacKenzie: Es ist sehr schwer, solche Sachen vorherzusagen. Aber seit 2022 hat sich die Macht im Staat noch mehr auf Putin konzentriert, als es vorher der Fall war. Ein Abgang Putins würde wohl vieles verändern, zumal er keinen offensichtlichen Nachfolger hat und er andere starke Figuren im System nicht duldet. Aktuell kann Putin bis 2036 im Amt bleiben, in diesem Jahr wird er 84.

Wenn wir mal annehmen, dass er im Amt stirbt, kommt es vermutlich zu Machtkämpfen zwischen den verschiedenen Fraktionen in der Elite – die Sicherheitskräfte (vor allem der FSB), die Armee, die Wirtschaftselite. Innerhalb dieser Gruppen gibt es auch ideologische Differenzen (der FSB ist sehr russisch-nationalistisch geprägt, aber auch da sind nicht alle so).

Es kann aber gut sein, dass es zu einer Art kollektiven Führung kommt, die in der Regel etwas gemässigter ist. Und in der russischen Elite haben verschiedene Figuren wohl eine etwas realistischere Wahrnehmung der Weltlage als Putin, der Berichten zufolge zunehmend abgeschottet lebt und von seinen Regierungsmitgliedern offenbar belogen wird (dies hat zur Fehleinschätzung der Widerstandsfähigkeit der Ukraine 2022 geführt).

Wie gross ist die Chance, dass der Ukrainekrieg der Auslöser für einen 3. Weltkrieg ist.

Judith Huber: Die Antwort kennt niemand. Aber klar ist, dass wenn die Ukraine zu wenig Unterstützung erhält und von Russland besetzt wird – dann steigt die Gefahr einer Ausweitung des Krieges auf Europa. Der Kreml nennt europäische Staaten offen als Kriegsziele, Putin ist rachsüchtig, und wenn er nicht in der Ukraine gestoppt wird, steigt die Gefahr, dass er den Krieg ausweitet, auch mit Hilfe der Ressourcen (Bodenschätzen und an Menschen), die er dann in der Ukraine kontrolliert.

Ausserdem wären russische Truppen dann direkt an der Grenze zu Nato-Staaten. Deshalb wäre es auch in unserem Interesse, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert.

Russsische Kanäle behaupten. dass die Stadt Donesk, die zu den „Volksrepubliken“ gehört, seit 2015 von der Ukraine beschossen wird. Stimmt das? Und warum sollte die Ukraine diese Stadt angreifen und Zivilsten töten, wie es von Russland aus dargestellt wird?

Calum MacKenzie: 2014 übernahmen von Russland gestellte Kämpfer (teilweise angeführt von russischen Geheimdienstlern wie Igor Girkin) die Kontrolle in Teilen des Donbass, ein der Folge kam es zu Kämpfen zwischen dem ukrainischen Militär und diesen «Separatisten». In den heftigsten Kämpfen 2015 waren reguläre russische Einheiten involviert, deren Teilnahme Russland jedoch abstritt. Im Donbass hatten sehr viele Menschen enge Verbindungen zu Russland und die Maidan-Revolution mit Skepsis betrachtet. Bestreben, sich abzuspalten, waren und blieben aber eine Randerscheinung.

Russland und Russland-freundliche Medien sprechen gerne über die «Ermordung von mehr als 14.200 Menschen und die Vertreibung von 1,5 Millionen Menschen» im Donbass. Hier muss zunächst eines deutlich gemacht werden: Mit der Zahl der rund 14'200 «ermordeten» Menschen ist die Totalzahl der Toten im Konflikt im Donbass zwischen 2014 und 2021 gemeint. Diese setzt sich laut UNO-Menschenrechtskommission überwiegend aus gefallenen Soldaten auf beiden Seiten zusammen; bei rund 3100 handelt es sich um zivile Opfer, von der ein Teil sicher auch durch ukrainischen Beschuss starb. Von diesen zivilen Opfern kamen die allermeisten in der heissesten Phase dieses frühen Konflikts ums Leben, also 2014-2015. Zwischen 2015 und 2021 forderte der weitgehend eingefrorene Konflikt 365 zivile Opfer.

Die «1,5 Millionen Menschen, die vertrieben wurden» (in Wahrheit sind es mehr), flohen aus dem Donbass überwiegend in die von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiete – also in die Gebiete der Regierung, die nach russischer Darstellung einen «Völkermord» gegen ebendiese Bewohnerinnen und Bewohner des Donbass verüben wolle.

Was müsste Ihrer Ansicht nach geschehen, dass die russischen Bürger gegen das System Putin aufbegehren?

Calum MacKenzie: Das ist sehr schwer zu beantworten. Im Moment sieht die Mehrheit der Bevölkerung keinen Anlass, gegen das System aufzubegehren – nicht unbedingt, weil alle den Kurs des Kremls unterstützen, sondern weil das System es ihnen ermöglicht (und sie auch dazu ermuntert), sich aus der Politik rauszuhalten. Gewöhnliche Russinnen und Russen spüren keine Veränderungen seit beginn des Kriegs, die sie nicht bereit sind, hinzunehmen.

Wer in Moskau lebt, geniesst weiterhin einen ziemlich hohen Lebensstandard. Wer in einer sibirischen Stadt mit ein paar hunderttausend Einwohnerinnen und Einwohnern lebt, lebt weiterhin relativ nahe am Existenzminimum und muss sich darauf konzentrieren, über die Runden zu kommen. Weil das System das Verständnis vermittelt, die Bürgerinnen und Bürger müssten und sollten sich nicht um Politik kümmern, kümmern sie sich auch nicht, solange sie nicht allzu stark von negativen Veränderungen betroffen sind. Deswegen ist es für den Kreml schwer, jetzt Leute mit patriotischer Propaganda für den Krieg zu mobilisieren. Aber gleichzeitig sind die Menschen nicht motiviert, sich gegen den Krieg auszusprechen, auch wenn sie kriegsmüde sind (und weil das ein Risiko birgt oder weil sie generell auf einen Sieg hoffen und einen erwarten).

Wie schon weiter oben gesagt ist die wirtschaftliche Strategie des Kremls nicht nachhaltig. Falls er einmal nicht mehr die Bevölkerung von einschneidenden Folgen des Kriegs abschirmen kann, wird es interessant zu sehen, wie diese reagiert.

Wie stark spürt die russische Bevölkerung die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges?

Calum MacKenzie: Je nach Branche spüren die Russinnen und Russen die Inflation. Ich kenne schon Leute, die sich über die Lebensmittelpreise beklagen. Aber bei vielen Menschen sind die Reallöhne gestiegen. Das hat mit den riesigen Ausgaben des Staates für Militär und Rüstungsindustrie zu tun. Familien von Soldaten oder Leute, die in der Rüstungsindustrie arbeiten, haben jetzt mehr Geld in der Tasche. In der Privatwirtschaft mussten viele Arbeitgeber deswegen auch ihre Löhne erhöhen. Dazu kommt, dass es wegen Mobilmachung, Emigration und weniger Arbeitsmigration nach Russland einen Arbeitskräftemangel gibt. Die Zentralbank hat die Inflation mit Leitzinsanpassungen bremsen können. Aber sie hat sie auch nicht rückgängig machen können. Insgesamt spüren die Menschen die wirtschaftlichen Folgen noch nicht allzu stark.

Ich würde sagen, in den Orten, in denen schon immer investiert wurde (Moskau und Petersburg) wird immer noch investiert, und in den Orten, in denen kaum je investiert wurde, wird weiterhin nicht investiert. Insgesamt steuert Russland aber auf ein Problem zu. Die staatlichen Ausgaben können nicht ewig aufrechterhalten werden, und ein Land kann auch nicht ewig bei Infrastruktur oder Gesundheitswesen sparen, um die Armee zu finanzieren. Gleichzeitig ist die Wirtschaft so sehr auf Kriegsführung getrimmt worden, dass ein plötzliches Ende der Kämpfe auch problematisch wäre.

Guten Tag, in der Ostukraine verliert die Ukraine immer mehr Boden. Warum? Wieso können sie hier die Russische Armee nicht zurückdrängen? Wieso nimmt die Ukraine den Verlust schon fast gleichgültig entgegen? Wieso gibt es keine gross angelegte Gegenoffensive?

Judith Huber: Russland wirft extrem viele Soldaten und Material an die Front in der Ostukraine. Es wirft Unmengen an Gleitbomben auf die ukrainischen Stellungen und hat viele Drohnen zur Verfügung. Die Ukraine mit ihrer Unterlegenheit an Soldaten und Waffen kann dem nicht genug entgegensetzen. Die westliche Hilfe fliesst zu spärlich, die besten Soldaten sind gefallen, die neu mobilisierten Truppen sind weniger erfahren und oft auch weniger motiviert. Deshalb versucht die ukrainische Führung, andere Wege zu finden, Russland zu schwächen (die Offensive in Kurs, die vielen Drohnenangriffe auf Öldepots in Russland etc.).

Es ist aus ukrainischer Sicht unfair, dass der Westen Kiew vorwirft, die Ukraine sei nicht zu einer Gegenoffensive in der Lage, wenn man nicht einmal die Waffen liefert, die man versprochen hat und den Ukrainern verbietet, die verfügbaren Waffen effizient einzusetzen (sprich: diese gegen Ziele in Russland zu benützen). Die Ukraine nimmt diesen Verlust übrigens nicht gleichgültig hin, es ist grosser Schmerz und teilweise auch Wut gegenüber der Militärführung zu spüren.

@Calum MacKenzie Nach Ihren Twitter-Aktivitäten zu beurteilen; sind Ihnen die Arbeiten von Prof. Ivan Katchanovski bekannt. Wieso werden die forensischen Fakten zum Maidan2014 dem SRF Publikum nicht klar vermittelt/revidiert?

Calum MacKenzie: Ja, ich folge Katchanovski, aber er ist keine verlässliche Quelle. Zu den Geschehnissen auf dem Maidan ist noch vieles unklar und in der chaotischen Situation in der Ukraine nach der Revolution (und der Annexion der Krim und der russischen Einmischung im Donbass) hat man es versäumt, die Ereignisse richtig zu untersuchen.

Katchanovski aber lässt in seiner Forschung wichtige Nuancen weg und biegt die Unklarheiten zu Verschwörungstheorien zurecht, die nicht stichhaltig sind. Der Geschichtsprofessor William Risch von der Georgia College and State University etwa hat sich damit auseinandergesetzt.

Russland hat sich nach den westlichen Sanktionen einige kontroverse Verbündete in anderen Regionen gesucht (und teils auch gefunden). So etwa Iran, Nordkorea und Syrien. Wie ist die russische Bevölkerung auf diese offene Beziehung mit diktatorischen Staaten eingestellt?

Calum MacKenzie: Das jeweilige politische System dieser Staaten spielt in der Bevölkerung keine grosse Rolle. Aber gewisse Leute, mit denen ich gesprochen habe, sind nicht allzu beeindruckt von Russlands neuen Hauptpartnern. Das hat vor allem damit zu tun, dass Europa und Amerika bis heute mit Wohlstand und Qualität (bzgl. Konsumgüter) assoziiert werden. Vor allem China und Indien machen es möglich, dass einfache Russinnen und Russen im Supermarkt etc keine Warendefizite erkennen. Aber einige Leute in Russland trauen den chinesischen Produkten nicht und halten sie für weniger qualitativ. Da ist vermutlich wenig dran, aber vor allem Leute in den grossen Städten beteuern, Russland sei weiterhin ein «europäisches Land». Das bedeutet aber nicht, dass sie der Regierung Vorwürfe machen, sondern oft eher, dass sie sich von Europa verraten fühlen oder finden, Europa habe sich von seinen Werten entfernt.

Im März/April 2022 kurz nach Ausbruch gab es Friedensverhandlungen mit Russland und der Ukraine in Istanbul. Stimmt es, dass die Ukraine den gemeinsam erarbeiteten Friedensplan nicht annehmen durfte, weil insbesondere die NATO und vor allem Grossbritannien Bedenken hatten?

Judith Huber: Das ist eine Behauptung, die absolut unbewiesen ist. Was Russland damals von der Ukraine verlangt hat, war nichts als eine Kapitulation. Das hat nichts mit Frieden zu tun, sondern mit Unterwerfung. Das kam für die ukrainische Führung nicht in Frage. Diese ganze Behauptung unterstellt einmal mehr, dass die Ukraine keine eigenständiger Akteur ist, sondern eine Marionette des Westens. Das ist Unsinn, es ist die Weltsicht des Kremls, der nicht wahrhaben will, dass der kleine Nachbar Ukraine ein eigenständiges Land mit eigenem Willen ist.

Die Ukraine hat ihre Atomaren Waffen ja für das Versprechen an Russland zurückgegeben, dass sie nie von Russland angegriffen wird. Da dies nun nichtig ist und die Ukraine über viele Atomkraftwerke verfügt gibt es rufe oder gar Bestrebungen in der Ukraine wieder eine Atommacht zu werden?

Judith Huber: Es gibt in der Ukraine diese Diskussion, ja. Aber der Weg dazu, wieder eine Atommacht zu werden, ist lang und kostspielig, deshalb ist das zurzeit kein erfolgsversprechender Weg. Aber sicher eine Diskussion, die längerfristig geführt werden wird.

Bringen die Waffenlieferungen vom Westen überhaupt etwas? Der Krieg wird ja dadurch nicht gestoppt!

Judith Huber: Dank der Waffenlieferungen des Westens gibt es die unabhängige Ukraine überhaupt noch. Es sind aber zu wenige, um Russland aus dem Land zu drängen. Die Ukrainer haben mehrfach bewiesen, dass sie fähig sind, die westlichen Waffen so einzusetzen, dass die russischen Truppen zurückgedrängt werden. Wäre die Hilfe entschlossener und entschiedener, würden sie wohl viele der besetzten Gebiete zurückerobern. Eine solche Niederlage des Kremls wäre dann wohl das Ende des Krieges. Es ist nicht so, dass die Ukrainer um des Krieges willen den Krieg führen, sondern weil sie überleben und in Unabhängigkeit leben wollen.

Grüezi miteinander Es fehlt bei der Einschätzung der Kriegsmüdigkeit noch die Betrachtung der Ukraine, nach der ebenfalls gefragt wurde, und die auch mich interessiert.

Judith Huber: Gerne! Der Begriff der Kriegsmüdigkeit, wie wir ihn im Westen verwenden, ist für die Ukrainer und Ukrainerinnen ein Hohn. Sie wollten nie einen Krieg, sie mussten sich einfach dagegen wehren, umgebracht, vertrieben, zerstört zu werden. Und dieser Wille, zu widerstehen, besteht weiterhin. Aber alle sind extrem müde und erschöpft und möchten, dass der Krieg so schnell wie möglich endet. Aber sie wissen auch: Russland hat bisher jede Vereinbarung, die die Ukraine betrifft, gebrochen. Jedes Mal, wenn die Ukraine nachgab, reagierte Russland mit einer noch schlimmeren Invasion.

Einem Waffenstillstand zuzustimmen, der keinen Rückzug Russlands aus den besetzten Gebieten, keine Verfolgung der Kriegsverbrechen, keine Rückkehr der verschleppten Kinder und anderer ZivilistInnen vorsieht, wäre für die Ukraine eine Katastrophe. Dann wären die vielen Opfer umsonst, Russland würde seine Kräfte sammeln, das Verhältnis zum Ausland normalisieren und später wieder zuschlagen – und die Ukraine vollends zerschlagen. Denn die Ideologie im Kreml, das Ziel, die Ukraine zu vernichten, bestünde weiterhin.

Und eine dermassen geschwächte Rumpf-Ukraine hätte keine Zukunft: die Geflüchteten würden nicht zurückkehren, die Investoren blieben fern. Das wissen die meisten UkrainerInnen und kämpfen deshalb weiter, auch wenn sie völlig erschöpft sind.

Ganz einfache Frage: Kann man Hr. Selenski und seinem Team trauen! Wie ist die Korruption in der Ukraine! Mit dem Fortschreiben in die Gegend Kursk macht die Ukraine doch genau das Gleiche wie Russland, oder wie sehen Sie das? Und noch eine wichtige Frage: Sind in der Ukraine bereits Truppen und Soldaten westlicher Länder aktiv? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die ukrainische Armee innert so kurzer Zeit modernste Waffensysteme, Flugobjekte und weiteres Kriegsmaterial korrekt anwenden kann. Vielen Dank für Ihre Antworten

Judith Huber: Präsident Selenski und sein Team sind keine Heiligen, aber sie geben ihr bestes, um ihr Land durch diesen Krieg zu führen und so viel westliche Hilfe wie möglich zu mobilisieren. Korruption gibt es, aber sie ist viel weniger im System verwurzelt als früher. Nach der Maidan-Revolution hat die Zivilgesellschaft enormen Druck gemacht, um mit institutionellen Mechanismen die Korruption einzudämmen, mit relativ viel Erfolg. Und sie tut das weiterhin. Und: Die Oligarchen haben durch den Krieg ihre Macht (und ihre Unternehmen) verloren. Die Ukraine ist weniger korrupt als zum Beispiel Ungarn.

Das Argument, man solle die Ukraine nicht unterstützen, weil sie korrupt ist, ist verlogen und stammt aus der Kreml-Propaganda. Was die westlichen Truppen und Soldaten angeht: Es gibt lediglich ausländische Freiwillige, die auf Seiten der Ukraine kämpfen, aber für denselben Lohn wie die Ukrainer und im Rahmen der ukrainischen Armee.

Westliche Ausbildung von ukrainischen Soldaten gibt es, im Ausland und ev. vor Ort (das wissen wir nicht genau). Aber die Ukraine ist sehr wohl in der Lage, selber neue Waffensysteme zu entwickeln (Drohnen, und auch Raketen). Das geschieht in Zusammenarbeit mit westlichem Know-How, aber die Ukrainer sind die treibende Kraft. Aber da der Kreml davon überzeugt ist, dass die Ukrainer selber nichts zustande bringen, behauptet er, hinter allem stünde der Westen. Da ist nicht wahr. Die Ukrainer schaffen das meiste aus eigener Kraft, aber das ist im Weltbild der russischen Propagandisten (und auch von denen, die dieser aufsitzen), nicht vorgesehen. Denn sie – die sich als Grossmacht verstehen – können ja nicht zugeben, dass sie es nicht schaffen, das kleinere Nachbarland zu besiegen.

Russland & Ukraine sind sehr gläubig und die Kirche spielt in beiden Ländern eine grosse Rolle. Daher bin ich davon überzeugt, dass die Kirchen eine grössere Rolle in Friedensbemühungen übernehmen könnten, aber das ist überhaupt nicht sichtbar. Wissen Sie etwas darüber? Welche Rolle spielt die Kirche insbesondere in Russland in diesem Krieg? Warum hat sich die russische Kirche komplett der Propaganda Putins unterworfen? Gibt es Druck von Seiten anderer orthodoxen Kirchen auf Russland, bspw. von Griechenland?

Calum MacKenzie: Unter den ethnischen Russinnen und Russen in Russland geben viele Leute an, russisch-orthodox zu sein. Das hat aber eher mit der nationalen Identität als mit dem Glauben zu tun. Statistisch gesehen besuchen sehr wenige Menschen in Russland regelmässig einen Gottesdienst; in der Bevölkerung sind Scheidungen und Abtreibungen kaum umstritten, obwohl sie von der orthodoxen Kirche eigentlich abgelehnt oder kritisiert werden.

Trotzdem hat der Kreml die Kirche unterwandert und nutzt sie (auch im Ausland) als Teil seines Einflussnetzwerks. Das ist eigentlich nichts neues, der Kreml kontrolliert fast alle grösseren Institutionen in der russischen Gesellschaft, und die Kirche wurde bereits in der Sowjetzeit von den Behörden vereinnahmt.

Warum wird Putin in westlichen Medien und politischen Debatten selten nach seiner Meinung oder Perspektive im Ukraine-Konflikt gefragt, und welche Auswirkungen hat das auf das Verständnis des Konflikts und die Bemühungen um eine Lösung?

Calum MacKenzie: Bei Putin sind mehrere Anfragen westlicher Medien um ein Interview hängig. Gewährt hat er eines seit Kriegsbeginn nur einem westlichen Journalisten: Tucker Carlson. Über das Interview im Februar dieses Jahres wurde in westlichen Medien (auch bei SRF) detailliert berichtet. Interessant war etwa, dass Putin Carlsons Frage zur Rolle der Nato-Expansion bei den Ursachen des Kriegs mit einem langen, ahistorischen Vortrag beantwortete, bei dem es um das angebliche Anrecht Russlands auf die Kontrolle über die Ukraine ging. Daraus lässt sich mutmassen, dass Putin aus ideologischen Gründen die Ukraine zur Einflusssphäre Russlands zählt und einen Nato-Beitritt der Ukraine (der vor 2022 eigentlich nicht realistisch war) aus diesen Gründen, nicht etwa aus Sicherheitsgründen, ablehnt.

Die Bemühungen um eine Lösung gestalten sich auch deswegen schwierig, weil Sicherheitsgarantien an Russland (wie sie etwa im Januar 2022 verschiedentlich vorgeschlagen wurden) nicht ausreichen, um den Kreml von seinen Zielen abzubringen.

Inwiefern sind private Militär Firmen involviert in den Vorstoss in Kursk (z. B. die Forward Observations Group)? Können private Militär Gruppen einen Unterschied machen in dem Ukrainekrieg?

Judith Huber: Wir haben keine vollständigen Informationen darüber, wer alles am Vorstoss in Kursk beteiligt ist. Wir wissen aber, dass es hauptsächlich ukrainische Truppen (Elite-Truppen) sind, und dass offenbar Einheiten beteiligt sind, die aus dem Ausland – zum Beispiel Belarus – stammen. Diese kämpfen schon länger zusammen mit der ukrainischen Armee. Ich habe mit mehreren ausländischen Freiwilligen gesprochen (Franzosen, Amerikanern und Russen), die auf Seiten der Ukraine kämpfen. Sie tun das aber aus eigenem Antrieb, erhalten denselben Lohn wie die ukrainischen Soldaten und sind keine privaten Militärs. Sie sind eine willkommene Verstärkung, aber fallen schlussendlich nicht so sehr ins Gewicht.

Dass private Militärfirmen an Kämpfen beteiligt sind, dafür fehlen bislang die Belege, und ich halte das auch nicht für wahrscheinlich und eher für eine russische Behauptung.

Frage 1: Wann waren Sie als SRF das letzte Mal in Donbas, auf der Russischen Seite der Front auf der Krim oder in Moskau? Falls das vor 2 Jahren war, weshalb berichten Sie als neutrales SRF so einseitig, arbeiten Sie mit der Nato zusammen ?

Calum MacKenzie: Ich bin jetzt gerade in Moskau. Will ein ausländischer Journalist oder eine ausländische Journalistin in das von Russland kontrollierte Kampfgebiet reisen, ist eine offizielle Bewilligung des russischen Geheimdiensts notwendig, von diesem wird man dann auch während der gesamten Reise begleitet. Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, frei zu berichten.

Ich höre öfter, dass russisch Stämmige, in den jetzt von Russland besetzten Gebieten, früher von der Ukraine unterdrückt wurden. Also die Ukraine mit den russisch Stämmigen nicht gerade zimperlich umgegangen ist und dies mitunter zum Einmarsch der Russen führte. Sind das von Russland bewusst gestreute Fake News oder ist da auch etwas Wahres dran?

Judith Huber: Zuerst muss man dazu sagen, dass es sich hierbei nicht um «Russisch-Stämmige» handelt, sondern um russischsprachige Ukrainer und Ukrainerinnen. Es geht nicht um eine Ethnie, sondern um Menschen, die aus verschiedenen Gründen russisch gesprochen haben: Weil die ukrainische Sprache in der Sowjetzeit unterdrückt wurde, und weil man für die höhere Bildung Russisch sprechen musste, und weil russisch einfach hip war. Viele dieser Menschen sprechen heute ukrainisch, weil sie nichts mehr mit Russland zu tun haben wollen. Aber zu Ihrer Frage: Russisch zu sprechen, war nie verboten, auch nicht im Osten. Es war vielmehr so, dass der Staat begann, die ukrainische Sprache zu fördern und in gewissen offiziellen Situationen vorzuschreiben – um so eine gemeinsame sprachliche und kulturelle Identität des unabhängigen Landes zu fördern. Aber Russisch wurde immer weiterhin und unzensiert gesprochen. Deshalb sind das Fake News.

Die Sprachenfrage wird vom Kreml instrumentalisiert: sie war nie ein Grund für den Einmarsch. Und es sind ja auch die russischsprachigen im Osten – die der Kreml angeblich schützen will – die am stärksten vom Krieg betroffen sind und weiter in den Westen emigrieren mussten. ABER: Es gibt tatsächlich unter den russischsprachigen UkrainerInnen Sympathien für die Russen, damals und zum Teil auch heute. Aber das hat weniger mit der Sprache an sich zu tun, sondern damit, dass das in der Regel Ältere sind, die sich mit den Veränderungen, die die unabhängige Ukraine durchgemacht hat, nicht anfreunden konnten, die den alten Zeiten nachtrauern, die sie verklären. Und genau diese spricht Russland mit seiner Propaganda an, zum Teil erfolgreich.

Der kreml droht immer wieder indirekt mit seinem nuklearen Arsenal, falls der westen der Ukraine den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet erlaubt. A) wie realistisch sehen sie weitere zugeständnisse des westens? B) was spricht gegen eine russische, nukleare Antwort, falls der Westen dies erlauben würde? Danke!

Calum MacKenzie: Zur russischen Reaktion: Man muss mit dieser Frage vorsichtig umgehen, weil man die nächsten Schritte des Kremls natürlich nie mit absoluter Sicherheit vorhersagen kann. Allerdings denke nicht, dass der Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet von Russland eine nukleare Antwort provozieren würde. Die Ukraine und der Westen haben seit Kriegsbeginn verschiedene «rote Linien» überschritten, ohne ein namhafte russische Reaktion auszulösen. Man denke an die Drohnenangriffe auf Moskau oder den aktuellen Vorstoss in Kursk.

Zudem zeigt die Geschichte, dass Putin eigentlich kein risikofreudiger Politiker ist: Er riskiert keine neue Mobilmachung; er riskiert keine offizielle Kriegserklärung; den Krieg hat er begonnen, weil er meinte, die Ukraine wäre in wenigen Tagen besigt. Der Einsatz von nuklearen Waffen stellt ein riesiges Risiko dar – durch die Antwort des Westens, die Reaktion in der russischen Elite und weil China klargemacht hat, dass es keinen Atomkrieg will.

Was würde sich für die Bevölkerung (die «einfachen Leute» sozusagen) der Ukraine ändern, wenn reintheoretisch Russland die neue Regierung wäre, also wenn die Ukraine, oder Teile davon, erobert oder «abgetreten» würden? Würden sie diskriminiert werden? Hätten sie die gleichen Rechte usw. wie Russ*innen?

Judith Huber: Wir sehen, was mit den UkrainerInnen in den russisch besetzten Gebieten passiert. Dasselbe würde der ganzen Ukraine blühen, wenn Russland die Kontrolle hätte. Ukrainische Medien, Bücher, Ukrainisch-Unterricht in der Schule werden verboten, jegliche Sympathie-Äusserung für die Ukraine würde mit Folter oder Verschleppung bestraft.

Russland hat vor der Grossinvasion Listen erstellt von Leuten, die es eliminieren oder einsperren möchte: Intellektuelle, Politiker, Aktivistinnen der Zivilgesellschaft. In den besetzten Gebieten wurde das bereits umgesetzt, viele Menschen wurden ermordet oder sind in so genannten «Filtrationslagern» verschwunden. Nur diejenigen, die sich Russland total unterwerfen, leben dort einigermassen gut. Das alles würde der ganzen ukrainischen Bevölkerung blühen. Die Ukraine würde vollends von Russland ausgeplündert (das geschieht ja schon in den besetzten Gebieten. da wird Getreide gestohlen, Maschinen, alles, was irgendwie wertvoll ist), die Leute würden ein Leben wie in einer armen russischen Provinz führen, der Willkür der russischen Geheimpolizei und der ukrainischen KollaborateurInnen ausgeliefert. Das wünschen sich nur wenige (auch wenn es solche gibt) – und deshalb wehrt sich die Ukraine so stark.

Werden die Ukraine und Russland kriegsmüde, wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?

Calum MacKenzie: Zu Russland: Eine Kriegsmüdigkeit ist definitiv zu spüren. Der ukrainische Vorstoss in Kursk etwa macht das sichtbar: Obwohl russisches Territorium zum ersten Mal seit Jahrzehnten von den Truppen eines anderen Staats besetzt wird, spricht hier kaum jemand darüber. Die Menschen, mit denen ich spreche, schenken dem Ganzen keine grosse Beachtung; viele haben aufgehört, regelmässig die Nachrichten über den Krieg zu lesen.

Wenn ich sie darauf anspreche, sagen sehr viele Russinnen und Russen, dass sie hoffen, der Krieg würde bald enden. Entscheidend ist aber, dass nur die wenigsten bereit wären, Konzessionen zu machen, damit der Krieg aufhört. Ein Ende des Kriegs stellen sie sich eher so vor, dass Russland die eroberten Gebiete behält und/oder die ukrainische Regierung ausgetauscht wird.

Derzeit vermelden die Russen ukrainische Versuche, die russische Grenze in die Region Belgorod überqueren zu wollen. Für wie wahrscheinlich haltet Ihr es, dass der Ukraine dies gelingen wird? Und falls ja, ist eine solche Offensive wie in Kursk auch in Belgorod denkbar? Danke für eure Antwort :)!

Judith Huber: Belgorod wäre ein logisches nächstes Ziel für eine Offensive der Ukraine, denn es grenzt an die Region Kursk, und könnten die Ukrainer Belgorod kontrollieren, dann wäre die ukrainische Grossstadt Charkiv besser geschützt. Es gibt Hinweise darauf, dass es tatsächlich Versuche gibt, Genaueres lässt sich aber noch nicht dazu sagen. Vielleicht wissen wir bald mehr.

Am Anfang des Krieges haben viele Videos im Netz kursiert, in denen russische Kriegsgefangene nach Aufforderung ukrainischer Soldaten «Slava Ukraini» riefen. Solche Videos habe ich in den letzten Monaten nicht mehr gesehen, was nicht heisst, dass es nicht mehr passiert. Den öffentlich publizierten Videos nach zu urteilen, geht es ukrainischen Soldaten in russischer Gefangenschaft deutlich schlechter. Wisst ihr mehr über die Verhältnisse der Gefangenschaft von Soldaten der russischen und ukrainischen Armee? Gibt es eine orchestrierte Aufklärungsarbeit des ukrainischen Verteidigungsministeriums, um die Gefangenen über die russische Propaganda zu informieren? Und wie gehen ukrainische Soldaten mit dem Informationsvakuum der Bevölkerung in den besetzten russischen Gebieten um? Liebe Grüsse

Judith Huber: Ich habe vor kurzem mit einer Ukrainerin gesprochen, die als Sanitätssoldatin in Mariupol von den Russen gefangen genommen wurde und mehrere Monate in Gefangenschaft war. Das Material werde ich bald veröffentlichen. Sie erzählt Entsetzliches von ihrer Gefangenschaft: Folter, Vernachlässigung, Hunger.

Die Uno hat vor kurzem bekanntgegeben, dass 95 Prozent der ukrainischen Kriegsgefangenen gefoltert werden. Das entspricht dem, was mir ukrainische Quellen erzählt haben. Russische Kriegsgefangene konnte ich noch nicht besuchen, aber viele andere JournalistInnen haben das getan und berichten von einigermassen angemessenen Zuständen. Was aber genau alles passiert, wissen wir nicht. Wenn man aber die Fotos von freigelassenen russischen und ukrainischen Kriegsgefangenen anschaut, dann sieht man, dass die ukrainischen Freigelassenen ausgezehrt und gezeichnet sind, die russischen aber nicht. Das allein sagt schon vieles.

Zur letzten Frage (ich kann nicht alle beantworten): In den besetzten Gebieten sind die verbliebenen UkrainerInnen dauerhaft der russischen Propaganda ausgesetzt, die Ukraine kann da nicht viel entgegenhalten. Aber wenn man die Rückeroberung von Cherson beispielsweise anschaut, im Spätherbst 22, dann sieht man, dass der ukrainische Staat so schnell wie möglich wieder alle Dienstleistungen zur Verfügung gestellt hat, um den Menschen zu zeigen: Wir sind wieder da und kümmern Euch um Euch.

Wie gross ist die Chance, dass der Ukrainekrieg der Auslöser für einen 3. Weltkrieg ist.

Judith Huber: Die Antwort kennt niemand. Aber klar ist, dass wenn die Ukraine zu wenig Unterstützung erhält und von Russland besetzt wird – dann steigt die Gefahr einer Ausweitung des Krieges auf Europa. Der Kreml nennt europäische Staaten offen als Kriegsziele, Putin ist rachsüchtig, und wenn er nicht in der Ukraine gestoppt wird, steigt die Gefahr, dass er den Krieg ausweitet, auch mit Hilfe der Ressourcen (Bodenschätzen und an Menschen), die er dann in der Ukraine kontrolliert. Ausserdem wären russische Truppen dann direkt an der Grenze zu Nato-Staaten. Deshalb wäre es auch in unserem Interesse, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert.

Wie funktioniert die Falschinformationspolitik von Putin und warum ist das russische Volk so schlecht informiert und naiv Putin zu glauben, was er schlussendlich selber nicht glaubt?

Calum MacKenzie: Die russische Propaganda ist sehr vielseitig. Früher war das Fernsehen der wichtigste Informationskanal des Kremls. Inzwischen informieren sich die meisten Russinnen und Russen im Internet, zum Beispiel über Newskanäle auf Telegram, auf YouTube oder dem russischen Pendant dazu, RuTube. Dort gibt es ein sehr breites und diverses, aber dennoch kremltreues Informationsangebot. Falschinformationen zum Beispiel über die ukrainische Regierung werden auch in «lustigen» Videos verbreitet, die vorgeblich einfach zur Unterhaltung dienen. Nicht alle russische Propagandamedien sind so schrill und aggressiv, wie die Fernsehmoderatoren, von denen immer wieder Videos auch bei uns kursieren. Die unterschiedliche Tonalität ist gewollt. Wenn ein bestimmter Moderator etwa den Atomkrieg gegen die Nato fordert, lässt er andere, gemässigtere Moderatoren oder Putin selbst vernünftig aussehen.

Dass die Lügen in den Staatsmedien teilweise offensichtlich sind, ist auch Teil der Strategie: Viele Menschen in Russland kommen darum zum Schluss, dass es gar nicht möglich sei, sich ein realistisches Bild der Situation in der Ukraine zu machen. Daher trauen sie auch den unabhängigen Medien nicht, die auf Telegram in Russland immer noch zugänglich sind.

Krieg in der Ukraine

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Tagesschau, 26.08.2024, 19:30 Uhr ; 

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