Zum Inhalt springen

Stillen oder nicht? Brust oder Flasche – spielt das wirklich (k)eine Rolle?

Stillen sei zwar gut, aber nicht so viel besser als das «Schöppele»: Diese Aussage machte eine Soziologin der Technischen Universität Dresden am Rande eines SRF-Beitrags zum Thema Stillen und Politik. Obwohl es in dem Beitrag nicht primär um die gesundheitlichen Aspekte ging, hat die Aussage in der SRF-Community hohe Welle geschlagen. Über 450-mal haben Userinnen und User den Artikel kommentiert.

Auch die Forschungsstelle für Neuroentwicklung, Wachstum und Ernährung (NGN) der Universität Zürich hat sich in unseren Kommentarspalten zu Wort gemeldet. Deshalb haben wir deren Forschungsleiter Giancarlo Natalucci direkt gefragt, was denn die Medizin zum Stillen sagt.

Giancarlo Natalucci

Neonatologe und Entwicklungspädiater

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Professor Giancarlo Natalucci ist Neonatologe und Entwicklungspädiater und leitet das NGN Forschungszentrum der Klinik für Neonatologie des Universitätsspitals Zürich. Aktuell leitet er die «Larsson-Rosenquist Stiftung»-Professur für Neuroentwicklung, Wachstum und Ernährung des Neugeborenen.

SRF News: Giancarlo Natalucci, spielt es eine Rolle, ob ein Kind die Brust oder Flaschenmilch bekommt?

Giancarlo Natalucci: Ja, es gibt erwiesene, klare Vorteile des Stillens. In der Literatur bestätigt wird der Zusammenhang zwischen dem Stillen und einer positiven Gesundheit des Kindes, etwa betreffend Infektionen der Atemwege oder des Darmtraktes.

Für die gesunde Entwicklung spielen auch andere Faktoren eine Rolle.

Das gilt nicht nur für Babys mit Gesundheitsproblemen wie etwa Frühgeborene, sondern auch für die Allgemeinpopulation. Ferner gibt es zusammenfassende Studien, die einen Zusammenhang zwischen der frühkindlichen Ernährung und metabolischen Störungen wie etwa Diabetes oder Fettleibigkeit darlegen.

Gibt es weitere Zusammenhänge?

Ja, etwa zwischen dem Stillen und der positiven mentalen Entwicklung und den kognitiven Leistungen eines Kindes. Noch uneins ist man sich allerdings darüber, wieso es diese Zusammenhänge gibt.

Hat im Umkehrschluss ein Kind, das Flaschenmilch bekommt, Nachteile?

Stillen bietet eine Möglichkeit der Einflussnahme auf eine positive Entwicklung des Kindes; auf die volle Ausschöpfung des Potenzials. Das heisst aber nicht, dass ein Kind, das die Brust nicht bekommt, sich in die Gegenrichtung entwickelt.

Qualitativ gibt es grössere Unterschiede zwischen Flaschen- und Muttermilch.

Für die gesunde Entwicklung spielen auch andere Faktoren eine Rolle, etwa das Verhalten der Eltern, die heimische Lernumgebung oder das sozioökonomische Umfeld.

Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen Muttermilch und Flaschenmilch?

Muttermilch und Flaschenmilch sind sich sehr ähnlich, was die quantitative Zusammensetzung von Kalorien, Fetten, Eiweissen, Kohlenhydraten, sowie Vitaminen und Mineralstoffen betrifft. Qualitativ aber gibt es grössere Unterschiede. Flaschenmilch wird auf der Basis von Kuhmilch hergestellt, basiert also auf Kuh- und nicht auf menschlichen Eiweissen. Das kann Intoleranz-Beschwerden auslösen, gerade bei Risikokindern wie etwa Frühgeborenen.

Muttermilch, ein magischer Saft?

Box aufklappen Box zuklappen

Manche Mütter schwören darauf: Muttermilch als Badezusatz fürs Baby oder als Heilmittel, etwa bei Bindehautentzündung. Was sagt der Entwicklungspädiater dazu? «Ich kenne keine Studien, die die Wirkung von Muttermilch als Badezusatz oder Heilmittel untersuchen», sagt Giancarlo Natalucci. Muttermilch sei kein Zaubersaft. «Aber sie ist immernoch die optimale Ernährung für ein kleines Kind.»

Was hat Muttermilch, was Flaschenmilch nicht hat?

Spezifisch für Muttermilch sind sogenannte bioaktive Substanzen. Dazu zählen etwa aktive Eiweisse, deren Aufgabe es ist, bestimmte Aktionen im Körper zu fördern, oder Antikörper, die die Immunabwehr fördern. Dann gibt es auch Substanzen, deren Komposition von Mutter zu Mutter sehr unterschiedlich ist, die sogenannten Oligosaccharide: Sie können die Darmflora des Kindes stabilisieren. Und nicht zuletzt enthält die Muttermilch Wachstumsfaktoren, Hormone, Enzyme und Erbinformationen, deren Funktionen man aber noch nicht genau kennt.

Warum Stillen auch die Politik interessiert

Hat Stillen auch Nachteile?

Ja, diese Nachteile sind durch den Gesundheitszustand der Mutter bedingt. Manche Mütter müssen auch Medikamente nehmen, aber auch bei Alkohol- oder Drogenproblemen ist vom Stillen abzusehen.

Es spielt eine grosse Rolle, wie sehr die Mutter vom Umfeld unterstützt wird.

Ein Nachteil ist es auch, wenn das Stillen bei der Mutter einen erheblichen Stress auslöst, der sie einschränkt. Hier spielt es eine grosse Rolle, wie sehr die Mutter vom Umfeld unterstützt wird. Es ist ein Fehler der Gesellschaft, dass der ganze Druck, die ganze Verantwortung bei der Mutter liegt. Es wäre die Aufgabe der Gesellschaft, diesen Stress pragmatisch wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren.

Kind trinkt von Brust
Legende: Symbolbild/keystone/MONIKA SKOLIMOWSKA

Das Gespräch führte Andrée Getzmann.

News Plus, 9.6.2023, 16 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel