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Berufliche Neuorientierung Wenn die Pandemie die Freude an der Arbeit raubt

Im Zuge der Pandemie haben sich viele Menschen Gedanken über ihre berufliche Zukunft gemacht. Das führt nun weltweit dazu, dass Angestellte ihre bisherige Stelle kündigen und etwas Neues in Angriff nehmen. Auch in der Schweiz.

Ferien. Für viele Menschen ist es die schönste Zeit im Jahr. Diese Zeit für und mit Kunden und Kundinnen zu gestalten, ist die berufliche Passion von Sandra Zwahlen. Heute stellt die Reiseexpertin mit Bedauern fest: «Ich kann den Menschen nicht mehr in dem Mass helfen, wie ich es eigentlich möchte.» Die Folgen der Pandemie haben ihr die Freude an der Arbeit genommen.

Seit 18 Jahren arbeitet Sandra Zwahlen in Interlaken in einem Reisebüro. Doch je länger die Pandemie andauert, desto mehr fühlte sich die 38-jährige «nur noch fremdbestimmt», wie sie während einer Mittagspause im Büro erzählt. Der Arbeitsalltag bestehe seit Monaten nur noch aus Improvisieren: Fluggesellschaften annullieren oder verschieben kurzfristig Flüge, fast täglich ändern die Ein- und Ausreisebestimmungen in den Destinationen oder Reisende können ihre Ferien wenige Stunden vor Abreise wegen eines positiven Covid-Tests nicht antreten.

In solchen Situationen klingelt bei ihr das Telefon, häufig rund um die Uhr; auch am Wochenende, auch wenn sie in der Freizeit am Skifahren ist. Dann sei eine rasche Lösung gefragt, so die Reiseexpertin und ergänzt mit einem Schmunzeln: «Schliesslich kann ich Kundinnen nicht auf einer Parkbank übernachten lassen, wenn sie wider Erwarten vor einem geschlossenen Hotel stehen.»

Sandra Zwahlen

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«Die Pandemie kann ich nicht ändern – aber meine persönliche Situation», hat sich sich Sandra Zwahlen gesagt und ihre Stelle nach 18 Jahren auf dem Reisebüro in Interlaken freiwillig gekündigt. Die Pandemie hat ihr die Freude an ihrer Arbeit geraubt. Wie es beruflich weitergeht, weiss sie noch nicht. (Bild: SRF / Matthias Heim)

Vor diesem Hintergrund sei ihr immer mehr bewusst geworden, dass sie sich von der Situation nicht zermürben lassen wolle: «Ich kann die Pandemie nicht ändern – aber ich kann meine persönliche Situation ändern. Schliesslich ist es mein Leben.» Und so fasste Sandra Zwahlen im vergangenen Herbst den Entschluss, ihre Stelle zu kündigen. Auf Ende März.

Ein wohlüberlegter Entscheid

Aufgrund der Ausführungen wird klar, dass Sandra Zwahlen der Schritt nicht leichtgefallen ist, «ihr» Büro nach 18 Jahren zu verlassen. Schliesslich hat sie dort bereits die Lehre absolviert. Heute leitet sie die Filiale. Freimütig erzählt sie, wie sie lange mit sich gerungen habe und sich zeitweise auch wie eine Versagerin gefühlt habe. Mehrfach habe sie sich auch die Frage gestellt, «ob ich den Problemen einfach davonlaufe, wenn ich kündige». Doch nun zweifelt sie keine Sekunde an der Richtigkeit ihres Entschlusses: «Mittlerweile bin ich froh und freue mich auf die Zukunft.»

Die Omikron-Welle hat in der Tourismusbranche erneut für Verwerfungen gesorgt. Die Folge: Der Arbeitsalltag sah für Sandra Zwahlen zuletzt genauso aus wie in den Monaten zuvor. Auch deshalb bereut sie ihren Entschluss nicht.

Ein weltweites Phänomen: Berufswechsel wegen der Pandemie

Mit dem Entschluss, die Stelle zu wechseln, befindet sich Sandra Zwahlen in bester Gesellschaft. Während der Pandemie haben sich viele Menschen Gedanken zu ihrer beruflichen Zukunft gemacht. Kürzlich äusserte sich auch Guy Ryder, der Direktor der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) mit Sitz in Genf, zu diesem Phänomen: «Die Pandemie hat offensichtlich dazu geführt, dass die Menschen ihre Arbeitsstelle und die damit einhergehenden Arbeitsbedingungen hinterfragen.»

Wie sich jetzt zeigt, haben sich die Menschen nicht nur Gedanken gemacht, sondern schreiten auch zur Tat und kündigen ihre Stelle, wie Pascal Scheiwiller, Geschäftsführer beim Personaldienstleister von Rundstedt, beobachtet: «In der Schweiz gibt es mehr Fluktuation als noch vor einem Jahr. Auch gibt es mehr Menschen, die kündigen.»

Dass der schweizerische Arbeitsmarkt momentan stark in Bewegung ist, zeigt sich anhand von verschiedenen Indikatoren:

Lesehilfe zu den Statistiken

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Die Beschäftigungsstatistik beschreibt die Entwicklung der Rekrutierungsschwierigkeiten nach ausgewählten Wirtschaftsbereichen.

Lesebeispiel (zweite Statistik): Im Berichtsquartal umfassten die Betriebe, die angegeben hatten, nur schwer oder gar kein qualifiziertes Personal gefunden zu haben, x Prozent der Gesamtzahl der Beschäftigten.

Sektor 2: Umfasst das produzierende Gewerbe, heisst den Sektor, der für die Verarbeitung von Rohstoffen zuständig ist. Dazu zählen u.a. das verarbeitende Gewerbe, die Industrie, das Handwerk (handwerkliche Produktion) sowie zumeist auch das Baugewerbe.

Sektor 3: Der Tertiär- oder Dienstleistungssektor umfasst alle Dienstleistungen, die in Unternehmen oder durch den Staat sowie in anderen öffentlichen Einrichtungen erbracht werden.

Allerdings ist es nicht ganz einfach, das Phänomen statistisch zu erfassen. Unbestritten ist, dass im Zuge der Pandemie viele Menschen die Stelle wechseln. Besonders ausgeprägt zeigt sich dieses Phänomen in den USA. Dort spricht man seit geraumer Zeit von der «Great Resignation» – von der «grossen Kündigungswelle» als Folge der Pandemie.

USA: «Great Resignation» oder «Great Upgrade»

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Isabelle Jacobi, Korrespondentin von Radio SRF in Washington, zu den Entwicklungen in den USA:

«Der US-Arbeitsmarkt ist wie ein Vexierbild. Je nach Perspektive zeigt sich ein heiteres oder düsteres Porträt. Die einen beobachten eine ‘Grosse Resignation’. Sie weisen auf die nach wie vor tiefe Erwerbsquote hin, auf die 3.5 Millionen Stellen, die seit Anfang der Pandemie verschwunden bleiben. Und sie weisen auf die rund 10 Millionen offenen Arbeitsstellen hin und die auffallend hohe Zahl monatlicher Kündigungen. Das alles bedeute, dass sich die Massen frustriert vom Arbeitsmarkt verabschiedet hätten, sagen diejenigen, die das Düstere sehen.

Die anderen, mit dem heiteren Blick, sprechen von einem ‘Great Upgrade’, sie betonen, dass praktisch Vollbeschäftigung herrscht, das heisst, wer Arbeit sucht, eine findet. Sie weisen darauf hin, dass es jeden Monat mehr Anstellungen als Kündigungen gibt, dass von der hohen Fluktuation vor allem Tieflohn-Sektoren betroffen sind und dass die Löhne stetig steigen. Das alles bedeute, sagen diese Stimmen, dass Arbeitnehmende den angespannten Arbeitsmarkt ausnützen würden, um ihre Lage zu verbessern.

‘Great Resignation’ oder ‘Great Upgrade’ – es sind politische und wirtschaftliche Interessen, die steuern, wer sich auf welches Bild fixiert. Tatsache ist, dass in gewissen Sektoren die Arbeitskräfte akut fehlen. Dass Arbeitnehmende eine Verhandlungsmacht geniessen, wie schon lange nicht mehr. Tatsache ist auch, dass Millionen Babyboomer während der Pandemie in den Ruhestand getreten sind und Millionen von Eltern – vor allem Mütter – sich zu Hause um die Kinder kümmern – und das weiter tun werden, bis die Normalität zurückkehrt. Denn die Pandemie wirkt weiter auf den US-Arbeitsmarkt, und zwar massiv.»

Zwar gibt es auch in der Schweiz Anzeichen, dass eine ähnliche Entwicklung wie in den USA im Gang ist. Bislang allerdings nicht in dem Ausmass wie in den USA. Pascal Scheiwiller bezeichnet den Vorgang in der Schweiz deshalb auch nicht als «Great Resignation», sondern spricht von einer «Resignation Tendency», von einer Tendenz, zu kündigen.

Offen für Neues

Zurück zu Sandra Zwahlen. Noch bis Ende März arbeitet sie in Interlaken als Reiseexpertin. Anschliessend hat sie einige Wochen Ferien geplant, bevor sie im Sommer wieder in den Berufsalltag zurückkehren will. In welche Richtung es gehen soll, ist noch offen. Klar ist für sie hingegen, was sie nicht mehr will: «Auf einem anderen Reisebüro arbeiten kommt auf keinen Fall in Frage. Ich fühle mich grundsätzlich wohl in meiner jetzigen Firma», betont Zwahlen. Vielmehr dürfe «es auch etwas ganz Anderes sein».

Zwar hat sie erste Stelleninserate überflogen, aber sich bislang noch nicht auf eine offene Stelle beworben. Sorgen um ihre berufliche Zukunft macht sich Sandra Zwahlen keine: «Vielleicht ist es eine arrogante Denkweise, aber ich habe schon das Gefühl, dass ich eine Arbeitsstelle finde», meint sie voller Elan: «Ich kann mich für vieles begeistern. Und die nächste Stelle muss nicht gleich ‘die Lebensstelle’ sein.» Sie könnte sich auch eine temporäre Anstellung im Tourismusbereich in der Region Interlaken vorstellen.

Gute Aussichten auf dem Arbeitsmarkt

Sandra Zwahlens Optimismus ist nicht unbegründet: «Seit Mitte 2021 sind die Wirtschaftsaussichten viel besser, und Unternehmen suchen wieder Personal, insbesondere Fachkräfte», fasst Pascal Scheiwiller vom Personaldienstleister von Rundstedt die aktuelle Situation auf dem Schweizer Arbeitsmarkt zusammen: «Das ermutigt natürlich Arbeitnehmende, sich nicht nur Gedanken zu machen, sondern neue Stellen anzuschauen, auch zu kündigen und neue Jobs anzunehmen.»

Pascal Scheiwiller

Arbeitsmarktexperte

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«Aufgrund des Fachkräftemangels verlagert sich die Verhandlungsmacht zugunsten der Arbeitnehmenden», sagt Pascal Scheiwiller, Arbeitsmarktexperte und Geschäftsführer des Personaldienstleisters von Rundstedt. Für die Unternehmen bedeutet diese Entwicklung, «dass sie vermehrt auf die Forderungen der Arbeitnehmenden eingehen müssen».

Noch zu Beginn der Pandemie sah die Situation ganz anders aus. Die Wirtschaft ist kurzzeitig in eine Schockstarre verfallen: Die Unternehmen haben niemanden eingestellt, sondern Personal abgebaut. Viele Arbeitnehmende wiederum haben sich nicht gerührt, wenn sie nicht mussten.

In der Zwischenzeit hat sich die Situation komplett verändert. Überall wird gutes Personal gesucht: Industrieschreiner, Lehrkräfte, Lastwagenfahrerinnen, Pflegende, IT-Spezialistinnen, Ingenieure – und die Liste liesse sich beliebig verlängern. Für Stellensuchende wie Sandra Zwahlen sind die Aussichten dementsprechend gut.

Allerdings geht der Arbeitsmarktexperte davon aus, dass zumindest der Bedarf an Fachkräften aufgrund des aktuellen Aufschwungs bis Ende dieses Jahres grösstenteils gedeckt sein wird. Damit dürfte es auf dem Arbeitsmarkt auch wieder etwas ruhiger werden. Anders sieht es hingegen in Branchen aus, die seit Jahren händeringend geeignetes Personal suchen. Diese werden weiterhin Mühe haben, ihre offenen Stellen zu besetzen.

SRF1, Trend, 28.1.2022

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