Die Affäre Relotius trifft die Branche härter als bisherige Fälle. Zwar hat beispielsweise Tom Kummer ganze Interviews erfunden. Doch Kummer war als freier Journalist oder Korrespondent tätig. Er war also nicht fest in eine Redaktion eingebunden.
Bei Claas Relotius liegt der Fall anders: Relotius war beim «Spiegel» angestellt, im Herzstück des Produktes: Der Redaktion des Magazins. Entsprechend bestürzt und wütend sind die Kolleginnen und Kollegen beim «Spiegel». Dass ein Journalist also aus dem System selbst, von innen heraus betrügt – das ist neu.
Ausgerechnet der «Spiegel»
Für den «Spiegel» ist der Fall sehr bitter. Wer die Redaktionszentrale in Hamburg betritt, sieht das Motto von «Spiegel»-Gründer Rudolf Augstein gross in Lettern an die Wand geschlagen: «Sagen, was ist». Selbst den Praktikanten wird dieser Leitsatz richtiggehend eingehämmert. Es ist eine der Säulen, auf denen «der Spiegel» steht.
Das Magazin hat – wie beispielsweise auch die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» – ein mehrstufiges Kontrollsystem von Dokumentatoren und Faktencheckern. Ein Autor muss auch mal Telefonnummern oder andere Kontaktangaben preisgeben, damit Quellen quergeprüft werden können. Dass dieses System nicht einmal, sondern mehrmals und über Jahre versagt hat, ist schon sehr ernüchternd.
Der Star-Journalist ist ein Fälscher
Dass es mit dem «Spiegel» das wichtigste und einflussreichste Nachrichtenmagazin Deutschlands derart hart trifft, zieht zwangsweise eine ganze Branche mit. Kommt dazu, dass Relotius quasi als Prototyp-Journalist galt: Ein Modellathlet der jüngeren Generation. Er hat 2013, 2015, 2016 und 2018 den deutschen Reporterpreis gewonnen, den wohl grössten Journalistenpreis in Deutschland. Für viele war Relotius die Zukunft einer gebeutelten Branche.
Der Fall Relotius betrifft darum in gewisser Weise auch uns. Denn auch die Schweiz gehört ja zum deutschen Sprachraum, zudem hat Relotius ebenfalls für Schweizer Titel geschrieben. So erschienen etwa in der «NZZ am Sonntag» in den vergangenen Jahren sechs Artikel von ihm, ebenso schrieb er für die «Weltwoche» oder das Magazin «Reportagen». Einzelne Texte sind auch in der «Aargauer Zeitung», im «NZZ Folio» oder dem «Bieler Tagblatt» erschienen.
Allerdings will man in der Schweiz noch nicht von Betrug sprechen – alle Redaktionen verweisen ja zurecht darauf, dass nicht alle Artikel von Relotius gefälscht sind.
Schwere Zeiten für den Journalismus
Der Fall Relotius kommt zu einer Unzeit. In einer Zeit, in der politische Akteure den Journalistinnen und Journalisten vorwerfen, nicht mehr zu schreiben, «was ist». In einer Zeit in der ein regelrechter Informationskrieg um Fakenews und «alternative Fakten» begonnen hat, ist die Glaubwürdigkeit mitunter das letzte Gut, das der Nachrichten-Journalismus für sich ins Feld führen kann.
Dass dieser Journalismus jetzt ausgerechnet beim «Spiegel» in ein schiefes Licht gerät, betrifft deshalb nicht nur das Nachrichtenmagazin, sondern den Journalismus an sich. Will man da wieder rauskommen, braucht es jetzt extreme Transparenz, neue Kontrollmechanismen und eine akribische Aufarbeitung der Ereignisse – so wie der «Spiegel» das jetzt angeht. Dementsprechend lange dürfte – und muss – diese Affäre den Journalismus noch beschäftigen.