Den Abend des 16. August 2012 wird Coert Fossen nie mehr vergessen. «Um halb elf sass ich am Schreibtisch. Da begann es zu rumpeln. Dann hat es geschüttelt, in alle Richtungen. Plötzlich gab es einen Knall, im ganzen Haus krachte es. Ich sass wie paralysiert auf dem Stuhl.» Kaum ebbt das Erdbeben ab, rennt Fossen aus seinem Haus. So stark war bisher noch kein Erdbeben, und es sollte alles verändern. Denn plötzlich war klar: Erdbeben dieser Grössenordnung waren plötzlich nicht mehr nur theoretisch möglich, wie die Gasförderkonzerne vorgerechnet hatten, sondern gefährliche Realität.
Bevölkerung vergessen
Coert Fossen lebt in Middelstum. Er ist Vorsitzender der Groninger Bodem Beweging , die sich für mehr Gerechtigkeit für die Bevölkerung einsetzt rund um die Gasförderung. Das Problem in Middelstum und anderen Dörfern, bei denen die Erdbeben Schäden hinterlassen haben: Die Gelder für Sanierungen und Verstärkungen fliessen nur spärlich oder gar nicht, kritisiert Fossen.
Verantwortlich dafür ist aus seiner Sicht die Regierung in Den Haag: «Die Bevölkerung fühlt sich seit Jahrzehnten vergessen. Über 400 Milliarden Euro haben die Niederlande mit dem Gas aus Groningen verdient. Aber nur ein Prozent der Einkünfte seit den 1960er-Jahren ist in Groningen geblieben.» Der Rest sei in Infrastruktur-Projekte im Westen geflossen. «Die Menschen hier jedoch tragen die Risiken, haben Probleme und schlechte Zukunftsaussichten.»
Zehn Jahre nach dem Erdbeben sind die breiten Risse in den Backsteinfassaden geflickt. Geblieben sind aber oft Narben als stille Zeugen der Erdbeben. Stark beschädigte Häuser durch Neubauten ersetzt – das sei etwas sicherer, aber nicht wirklich erdbebensicher, sagt Coert Fossen. Und die Finanzierung dauere zu lange. «Diese Unsicherheit setzt den Menschen hier zu.» Diese Verunsicherung mische sich mit Wut und Enttäuschung. «Ich habe das Vertrauen in die Regierung verloren», ruft eine Frau, die mitten im Dorf gerade auf eigene Rechnung ihr Haus saniert und Säcke mit Bauschutt schleppt. «Die Regierung hat gut verdient an Groningen, die Bevölkerung ist leer ausgegangen.»
Ähnlich tönt es auf der Hauptgasse. «Wir sind aus dem Norden, ruhige Menschen», erklärt ein älterer Mann. «In Amsterdam wäre die ganze Stadt sofort geschlossen worden. Wir sind einfach zu nett.» Die Gasförderung müsse gestoppt werden, sagt Coert Fossen: «Für eine warme Dusche darf die Bevölkerung hier keinen weiteren Gefahren ausgesetzt werden.»
Köpfe des Widerstands in Groningen
Der Linienbus fährt von Middelstum südlich Richtung Garmerwolde, quer durch flaches Land, das von Kanälen wie Adern durchzogen wird. Das Dorpshuis ist der Treffpunkt des kleinen Orts. Vor dem Gebäude weht eine Flagge mit den Farben von Groningen und einer grünen, seismischen Zackenkurve – das Symbol für Erdbeben und ein Zeichen des Protests.
Im Dorpshuis hat sich der Gasberaad eingemietet, ein Verbund regionaler Organisationen aus Gewerbe, Industrie und Gesellschaft. Präsident Jan Wigboldus, ein Mann mit weissen Haaren, blauem Hemd, Jeans und kräftigem Händedruck, kritisiert ebenfalls die niederländische Regierung. Es gehe alles zu langsam. Und Hilfe braucht es nicht nur für die Häuser, sondern auch für die Menschen selbst, erklärt der Landwirt: «Die Universität von Groningen hat festgestellt, dass 10’000 Menschen mental krank geworden sind, nicht allein durch die Erdbeben selbst, sondern aus Verzweiflung, weil die Behebung der Schäden so lange dauert.»
Das grosse Dilemma
Wigboldus bestätigt: «Die Gasförderung muss gestoppt werden.» Doch: Durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die damit gekoppelte Explosion der Gaspreise kommt die Region Groningen mit ihrer Forderung unter Druck. Dieser gipfelte im März in einer Umfrage in der Bevölkerung. Eine knappe Mehrheit der Befragten wollte lieber weiter Gas fördern in Groningen, als durch Gasimporte aus Russland den Kriegstreiber in der Ukraine weiter unterstützen.
«Die Frage lautete eigentlich: Wollen wir Sicherheit für unsere Häuser oder Unterstützung für die Ukraine. Und da ging die Ukraine vor.» Aber auch für Jan Wigboldus ist klar: Nur im Notfall, wenn die Altersheime und Krankenhäuser nicht mehr geheizt werden können, soll weiter Gas aus Groningen gepumpt werden, und nicht wegen guter Erträge dank der hohen Gaspreise. Das zeugt auch von grossem Misstrauen gegenüber dem Förderkonsortium NAM.
Groningen ist mit seinen 235'000 Einwohnerinnen und Einwohnern die sechstgrösste Stadt der Niederlande. Und auch in Groningen gab es Schäden an Wohnhäusern oder Denkmälern. Im frisch renovierten Rathauses mitten im Stadtzentrum lädt Bürgermeister Koen Schuiling zum Kaffee am grossen Tisch im Sitzungszimmer. Gleich zu Beginn räumt er die Tasse weg und hält die Untertasse in die Höhe:
«Die Region hier ist vergleichbar mit dieser Untertasse.» Sie liegt unter dem Meeresspiegel. «Sinkt Groningen wegen der Gasförderung noch weiter ab, wird es noch aufwändiger, die Region zu entwässern und vor Überschwemmungen zu schützen.» Bürgermeister Schuiling ist verärgert: «Die Erdbeben haben 26'000 Häuser beschädigt, auch Schulen, Denkmäler, Infrastrukturbauten. Von den Milliardengewinnen aus der Gasförderung fliesst aber nur ein Bruchteil in die Sanierung.» So sei auch gesetzlich verankert, dass Bodenschätze automatisch dem Staat gehören, nicht den Besitzerinnen und Besitzern der Grundstücke.
Andere Länder hätten auch bessere Modelle, um die Bevölkerung zu unterstützen: «Zum Beispiel wurde in Norwegen ein Fonds geäufnet, der für die Schäden aufkommt. Darauf hat man in den Niederlanden verzichtet.» Koen Schuiling lässt keine Zweifel offen: «Kein Gas mehr aus Groningen und mehr Tempo bei den Sanierungen.» Und er zieht eine bittere Bilanz. «Die Bevölkerung muss teilweise 20 Jahre warten, bis ihnen geholfen wird. Es wird sehr schwierig, deren Vertrauen wieder zu gewinnen.» Es sei eine «Lost Generation».
Stefan Wiemer ist Professor für Geophysik an der ETH Zürich und Chef des Schweizerischen Erdbebendienstes. Er hat die Regierung der Niederlande verschiedentlich rund um die Gasförderung beraten. «Wichtig ist, möglichst gut zu verstehen, wie gross die Risiken für Erdbeben sind», erklärt er. So kann man versuchen, das seismische Risiko möglichst kleinzuhalten.» Auch habe man geprüft, ob man das geförderte Gas mit anderen Gasen wie CO2 ersetzen könnte.
«Es hätte vielleicht funktioniert, wenn man vor 30, 40 Jahren direkt angefangen hätte, das Gas zu ersetzen. Nun sei der Boden so vorgespannt, dass solche Massnahmen selbst Erdbeben hervorrufen würden. Stefan Wiemer bestätigt: Die Betreiber hätten lange die Gefahr der Erdbeben unterschätzt. Vor 30 Jahren hätte man noch mit Verstärkung der Bauten die Situation entschärfen können. «Als nach dem grössten Erdbeben vor zehn Jahren NAM einräumte, dass die Beben mit der Gasförderung zusammenhängen, war es schon fast zu spät, die Situation noch zu retten.»
Ein Learning für künftige, grosse Energieprojekte, allfällige Folgekosten frühzeitig einzukalkulieren. Denn das kann die Rentabilität nachhaltig beeinflussen.