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Mehr Rechte für Konsumenten Sammelklagen in der EU möglich – bald auch in der Schweiz?

Ob Smartphones, die zu schnell kaputtgehen oder Pestizide, die Krebs verursachen: Sammelklagen sind in den USA die Waffe des einfachen Bürgers im Kampf gegen Grosskonzerne. Neu sind sie auch in der EU möglich. Was sich jetzt konkret ändert, weiss Wirtschaftsredaktor Matthias Heim.

Matthias Heim

Wirtschaftsredaktor

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Matthias Heim hat Wirtschaftsgeschichte studiert. Seit 2007 arbeitet er für Radio SRF, seit 2016 ist er Wirtschaftsredaktor. Seine Spezialgebiete sind Aviatik, Tourismus, Verkehr, Detailhandel und Energie.

SRF News: Was bedeutet die Möglichkeit von Sammelklagen konkret für EU-Bürger?

Matthias Heim: EU-Bürger können sich nun zusammenschliessen und gemeinsam gegen ein Unternehmen vor Gericht ziehen. Das können sie etwa dann, wenn ihre Rechte verletzt werden, zum Beispiel beim Datenschutz, oder wenn ein Produkt mangelhaft ist. Das war beim VW-Dieselskandal der Fall, als Millionen von VW-Kunden mit manipulierten Motoren unterwegs waren. Neu sollen geschädigte Konsumenten EU-weit gemeinsam gegen ein Unternehmen vorgehen können.

Ausschlaggebend für die Einführung von Sammelklagen in der EU war der VW-Diesel-Abgasskandal. Die Konsumenten waren hier also deutlich am kürzeren Hebel?

Nein, das nicht zwingend. In Deutschland hat eine Privatperson gegen VW geklagt. Ende Mai hat das Oberste Gericht in Deutschland dem Kläger recht gegeben und VW zu Schadenersatz verurteilt. Aber dieser Kläger hat das aus eigenem Antrieb gemacht und auch die Prozesskosten selber getragen. Er hat also ein erhebliches Risiko auf sich genommen.

Gerade, wenn die Grosskonzerne im Ausland sind, sind solche Klagen aufwendig und teuer.

Das ist anders bei einer Sammelklage: Man teilt sich gewissermassen die Kosten und den Aufwand für eine Klage. Gerade, wenn die Grosskonzerne im Ausland sind, sind solche Klagen aufwendig und teuer. Das wissen natürlich die Konzerne sehr wohl. Das erklärte Ziel der EU ist es deshalb auch, dass die Konsumenten mehr Möglichkeiten haben, sich gegen globale Unternehmen zur Wehr zu setzen.

Deutschland hat bereits ein ähnliches Klageinstrument

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In Deutschland gibt es seit 2018 die Möglichkeit von sogenannten Musterfeststellungsklagen. Ein Musterverfahren klärt, ob es einen grundsätzlichen Entschädigungsanspruch gibt. Die Geschädigten müssen in einem zweiten Schritt individuell eine Schadenssumme einklagen. Bei der Sammelklage dagegen können Gerichte Unternehmen direkt zu konkreten Entschädigungen an eine Vielzahl von Geschädigten verurteilen.

Die erste Musterklage betraf den Dieselskandal: Über 200'000 betroffene VW-Kundinnen und -kunden haben sich dabei zusammengeschlossen. Die Verbraucherzentrale nahm stellvertretend für die Geschädigten die Rolle des Klägers ein. Sie zog die Klage allerdings später zurück, weil VW sich bereit erklärte, einen aussergerichtlichen Vergleich zu treffen. Dieser kam im Februar 2020 zustande. In der Folge wurden die Geschädigten ausbezahlt.

In der Schweiz gibts keine Sammelklagen. Bin ich als Konsumentin künftig schlechter gestellt im Vergleich zu EU-Bürgern?

Man hat hierzulande tatsächlich ein Instrument weniger in der Hand. Allerdings ist es nicht so, dass man als Konsument den Konzernen schutzlos ausgeliefert ist. In der Schweiz gibt es durchaus effiziente Mittel über normale Gerichtsverfahren, etwa auf zivilrechtlichem Weg. Und viele Branchen haben zum Beispiel Ombudsstellen, die helfen können, wenn ein Schaden entstanden ist. Der Vorteil ist, dass ich dort vorstellig werden kann, ohne einen teuren Anwalt nehmen zu müssen.

Menschen tragen Pakete mit Unterschriften
Legende: 2017 reichte der Schweizer Konsumentenschutz beim Zürcher Obergericht eine Klage gegen VW im Namen von 6000 Geschädigten ein. Das Urteil steht noch aus. Keystone

Kommt die Sammelklage nun auch in der Schweiz?

In der Schweiz sieht es momentan nicht danach aus, als dass dieses Instrument eingeführt wird. Aktuell wird die Zivilprozessordnung überarbeitet und demnächst vom Parlament beraten. Darin geht es genau um Sammelklagen. Der Bundesrat sieht in seiner Botschaft von Februar allerdings davon ab, ein solches Instrument einzuführen – namentlich wegen des grossen Widerstands aus der Wirtschaft. Das heisst aber noch nichts: Entscheidend ist letztlich, wie das Parlament oder gar das Volk entscheidet.

Das Gespräch führte Isabelle Maissen.

SRF News Plus vom 23.6.2020 ; 

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