Antonio Londono ist einer von rund 160 Verträgern, die in Genf und der Waadt für wenig Geld jeden Morgen ab drei Uhr Zeitungen in die Briefkästen zustellen. Er arbeitet für die Genfer Firma Epsilon, eine 100-Prozent-Tochterfirma der Schweizer Post.
Zeitungsverträger: «Wie kann ich von diesem Lohn leben?»
Londono arbeitet seit acht Jahren für die Post-Konzerngesellschaft Epsilon – sein Stundenlohn ist seit 2011 nie gestiegen. Londono sagt im Interview mit «10vor10»: «Mein Septemberlohn war 1977 Franken. Ich weiss nicht, wie ich von diesem Lohn in Genf leben kann.»
Londono fährt zwei Touren, jeden Morgen ab drei Uhr für mindestens 4.5 Stunden, montags bis samstags. Seine Arbeit entspricht einer 60 Prozent-Arbeit und ergäbe – konservativ berechnet – auf eine 100 Prozent-Stelle einen Monatslohn von rund 3100 Franken. Das Problem laut Personalvertretern: Die Post-Tochter Epsilon berechnet den Zeitaufwand für die Touren tiefer, als die Zeitungsverträger effektiv unterwegs sind.
Genfer Arbeitsinspektorat führt eine Untersuchung
Recherchen zeigen: Der Präsident der paritätischen Arbeitsinspektoren des Kantons Genf, Joel Varone, führt eine Untersuchung gegen die Post-Tochter Epsilon. Bereits für nächsten Montag stehen erste Gespräche an mit Spitzenvertretern der Post. Varone: «Im Kanton Genf untersteht die Firma Epsilon dem gesetzlichen Mindestlohn in dieser Branche von rund 20 Franken. Bezahlt sie diese Löhne nicht, sind Bussen möglich.»
Konkret wird die Genfer Arbeitsbehörde in den nächsten Wochen den tatsächlichen Zeitaufwand der Zeitungsverträger und die ausbezahlten Stundenlöhne überprüfen. Laut Insidern ist die Lohnabrechnung der Post-Konzerngesellschaft höchst intransparent.
Unia erwartet Lohnnachzahlungen von rund 100'000 Franken
Zahlreiche Personalvertreter der Epsilon-Mitarbeitenden haben die Gewerkschaft Unia Genf über die Zustände informiert. Unia-Sekretär Alessandro Pelizzari: «Die tiefsten Stundenlöhne liegen bei 11.70 Franken laut unseren Schätzungen.» Die Gewerkschaft gehe davon aus, dass die Post-Tochter rund 100'000 Franken in den letzten Jahren zu wenig bezahlte Löhne nachzahlen müsse.
Der Genfer Verträger Antonio Londono: «Wir Zeitungsverträger in der Romandie fühlen uns wie die Familienmitglieder der Post, für die nur die Krümel übrigbleiben.»
Post: «Wollen neu Gesamtarbeitsvertrag einführen»
Die Firma Epsilon wollte kein Interview geben und zweifelt die tiefen Löhne an. Die Schweizer Post hat diesen Sommer vom Arbeitskonflikt in der Romandie erfahren – und verspricht jetzt im Interview mit «10vor10» erstmals konkrete Massnahmen, um die Situation der Westschweizer Zeitungsverträger zu verbessern.
Post-Sprecher Oliver Flüeler: «Wir haben eine interne Untersuchung angeordnet und arbeiten mit dem Arbeitsinspektorat in Genf zusammen. Stundenlöhne von 11.70 Franken sollte es nicht geben. Die Post plant jetzt einen Gesamtarbeitsvertrag. Wir sind mit den Gewerkschaften so weit, um Verhandlungen zu starten.»