Zum Inhalt springen

Streitpunkt Arbeitszeit Die Viertagewoche hat noch einen schweren Stand

In der «Nagli» Winterthur wird an bloss vier Tagen gearbeitet – gute Organisation und Engagement machen es möglich.

Die Maschine in der Nagelfabrik Winterthur produziert 420 Nägel pro Minute. Seit 2016 tut sie das aber nur noch an vier statt wie vorher an fünf Tagen pro Woche.

Milan Matic und die fünf anderen Mitarbeitenden der «Nagli» beschlossen damals gemeinsam, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Und es funktioniert. «Wenn alles gut organisiert ist, klappt das tadellos», sagt Matic.

Wenn alles gut organisiert ist, klappt die Viertagewoche tadellos.
Autor: Milan Matic Mitarbeiter in der Nagelfabrik Winterthur

Mit der Arbeitszeitverkürzung seien sie effizienter geworden. Und die Kunden hätten vom Wechsel gar nichts gemerkt, erklärt Rainer Thomann, ein zweiter Mitarbeiter.

Absolute Priorität habe von Anfang an die Einhaltung der Liefertermine gehabt. «Da kam es zu Beginn schon vor, dass an einem Freitag mehr als eine Person arbeiten musste.»

Mit der Zeit habe sich aber jeder selbst so organisiert, dass er am Freitag nicht mehr in die Fabrik kommen musste. Jetzt ist es für die Mitarbeitenden der «Nagli» ganz normal, nur noch 34 Stunden pro Woche zu arbeiten.

Arbeitszeit ist eine Frage der Aushandlung

Wie viele Stunden Arbeit pro Woche als «normal» gelten, verhandeln wir als Gesellschaft immer wieder neu. Und die Wochenarbeitszeit hängt auch von äusseren Umständen ab. So sei denn die Arbeitszeit auch immer ein Ergebnis von Verhandlungen gewesen, sagt der Historiker Bernard Degen.

Durchschnittlich bloss 35.4 Stunden

Box aufklappen Box zuklappen

Viele Erwerbstätige in der Schweiz haben durchaus eine grosse Präferenz für mehr Freizeit: Fast 40 Prozent arbeiten schon heute Teilzeit – Tendenz steigend. Sie haben ihre ganz eigene Arbeitszeitverkürzung realisiert. Im Schnitt arbeiten die Erwerbstätigen in der Schweiz gemäss den letzten verfügbaren Zahlen denn auch bloss 35.4 Stunden pro Woche. Das kommt einer Vier-Tage-Woche schon ziemlich nahe.

Dabei sei die Arbeitszeit keineswegs stets kürzer geworden: «In der Frühzeit der Industrialisierung wurde sie sogar viel länger!» Denn mit der Erfindung der Gaslampe und später dem elektrischen Licht mussten die Beschäftigten in der Textilbranche bis zu 15 Stunden pro Tag arbeiten.

Löhne ändern ständig – Arbeitszeit nicht

Später gab es schrittweise Verkürzungen – zuerst auf 65 Stunden pro Woche. Im Ersten Weltkrieg musste man Kohle sparen und hat darum samstags nicht mehr gearbeitet. Danach verbreitete sich international eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche. Dies auch, um die Gesellschaft nach dem Krieg zu stabilisieren.

Die Arbeitszeit war schon immer hart umkämpft, wohingegen Löhne eher leichter geändert werden können. «Die Löhne können sich ständig ändern und auch gekürzt werden – meist in Form von Inflation», sagt Historiker Degen. Doch die Arbeitszeit wieder zu erhöhen, sei eine sehr schwierige Angelegenheit.

In der Schweiz hätten die Gewerkschaften und auch die Arbeitgeber in der Vergangenheit stärker über Löhne als über Arbeitszeit verhandelt, so Degen.

Fachkräftemangel in den 1970er-Jahren

Ein Thema war die Viertagewoche in der Schweiz bereits in den 1970er-Jahren. Die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens berichtete damals darüber. Grund für die Diskussionen über eine Verkürzung der Arbeitszeit war der auch damals herrschende Fachkräftemangel.

Ganz ähnlich wie heute im Gastgewerbe war aber auch damals eher die Rede davon, die gesamte Arbeitszeit in vier Tagen zu absolvieren. Eine effektive Arbeitszeitverkürzung dagegen war schon vor 50 Jahren chancenlos.

Rendez-vous, 10.08.2022, 12:30 Uhr

Meistgelesene Artikel