Zum Inhalt springen

Umstrittene Wachstumskriterien Inflation zeigt: Zwang zu Wachstum macht verletzlich

Was immer wachsen muss, ist krisenanfälliger. Die Ökonomin Irmi Seidl sieht dies in der aktuellen Lage erneut bestätigt.

Eine der prominentesten Wachstumskritikerinnen der Schweiz ist Irmi Seidl. Die Wirtschaftsprofessorin hat zusammen mit einer Kollegin vor zwölf Jahren in einem vielzitierten Buch die sogenannte «Post-Wachstumsgesellschaft» umrissen. Es ist eine Gesellschaft, die nicht mehr von Wirtschaftswachstum abhängig ist, um zu prosperieren, und in welcher der Konsum um des Konsums willen keinen Platz mehr hat.

Wenn in der aktuellen Krise viele Menschen in Europa und auch in der Schweiz bewusster mit ihrem Geld umgehen müssen, freut das auch Seidl nicht. Das wolle und wünsche sich niemand: Wünschenswert wäre aber eine Umstrukturierung der Gesellschaft, sodass sie widerstandsfähiger gegen solche Krisen ist, mit weniger Umweltnutzung klarkommt und nicht vom Wachstum abhängig ist.

Eine gefährliche Abhängigkeit

Eine Gesellschaft, die nicht unter Wachstumszwang steht, wäre in einer Krise wie der aktuellen viel widerstandsfähiger, sagt Seidl. Denn die Abhängigkeit vom Wachstum mache Gesellschaft verletzlich: «Bei solchen Krisen bricht das Wachstum ein und destabilisiert Systeme wie die Sozialversicherung, den öffentlichen Haushalt und den Arbeitsmarkt.»

Zwar schrammt die Schweiz möglicherweise an einer Rezession vorbei. In der Altersvorsorge etwa ist die Krise aber bereits angekommen: Die Renditen der Pensionskassen sind massiv eingebrochen.

Kräne.
Legende: Die Ökonomin Irma Seidl geht davon aus, dass die Wachstumsraten ohnehin zurückgehen – mit gleichzeitigem Anstieg der Kosten im Kampf gegen den Klimawandel. Keystone/Gaetan Bally

Hier müsste die Politik Lehren ziehen, findet die Ökonomin, die an der ETH Zürich und am Institut für Wald, Schnee und Landschaft WSL forscht und lehrt: «Gerade die Pensionskassen sind sehr wachstumsabhängig und es ist fest davon auszugehen, dass die Wachstumsraten zurückgehen.» Die jetzige Erfahrung könnte laut Seidl zu Überlegungen beitragen, wie die Pensionskassen weiterzuentwickeln wären.

Glücklicher mit mehr Konsum?

Auch beim Konsum könnte die Krise ein Umdenken in der Gesellschaft bewirken: Wer sparen muss, merkt, dass es auch mit weniger geht. Wohlhabendere stellen vielleicht fest, dass es gut geht mit weniger – oder sogar besser.

Lange ist die klassische Lehre davon ausgegangen ist, dass nur eine wachsende Wirtschaft den Wohlstand einer Gesellschaft erhalten kann. Laut Seidl ist das aber seit rund 40 Jahren nicht mehr so. Die Forschung zeige, dass das Wohlergehen vor allem dank freier Zeit, sozialer Beziehungen und Kultur steige.

Nach der Krise ist vor der Krise

Seidl macht sich aber keine Illusionen und rechnet mit zwei gegensätzlichen Entwicklungen, wenn die Krise einmal vorbei sein sollte. So werde einerseits eine Stimmung herrschen, die nach Wachstum rufe. «Ich nehme sehr fest an, dass das Bewusstsein für die Anfälligkeit des aktuellen Wirtschaftssystems wächst und dass es sich mittelfristig weiterentwickeln muss.» Denn das Wachstum werde ohnehin zurückgehen, betont Seidl.

Irmi Seidl.
Legende: Wachstumskritikerin Irmi Seidl stellt zwar ein gewisses Umdenken fest. Einen so schnellen und konsequenten Wandel werde es aber nicht geben, sodass auf die aktuelle Krise nicht schon bald die nächste folge. WSL

Gleichzeitig würden die Kosten für den Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen steigen. Um diese ohne Wirtschaftswachstum schultern zu können, müssten die Staaten ihre Kassen unabhängiger machen von Steuern auf die Erwerbsarbeit.

Zielführender und langfristig ertragreicher sei, wenn der Staat vermehrt Steuern auf den Verbrauch von natürlichen Ressourcen erhebe und umweltschädliche Subventionen abschaffen würde. Ein Umdenken sei im Gang, doch es werde kaum so rasch gehen, um eine nächste Krise verhindern zu können, sagt Seidl.

Echo der Zeit, 26.10.2022, 18:00 Uhr

Meistgelesene Artikel