Das «Wall Street Journal» spricht von einer «Verarmung Europas». Dem gegenüber gebe es in den USA ein sattes Wachstum und steigende Löhne. Reto Föllmi, Makroökonom an der HSG St. Gallen, zeigt auf, wie die Verhältnisse derzeit sind, und wagt einen Ausblick für die Zukunft.
SRF News : Ist die Kluft zwischen Europa und den USA wirklich so gross?
Reto Föllmi: Europa ist sicherlich nicht dem Untergang geweiht. Das ist eine Momentaufnahme. Die USA sind stärker aus der Coronakrise gekommen als Europa und befinden sich in einem schnelleren Wachstum. Die Bevölkerung nimmt in den USA viel stärker als in Europa zu.
Die Reallöhne in den USA steigen vor allem durch steigende Staatsausgaben.
Die Zahlen, die vom «Wall Street Journal» angeführt werden, sind dramatisch. Europas Anteil am globalen Konsum sei in den letzten Jahren bedeutend zurückgegangen. Derjenige von Amerika sei gestiegen. Wie ordnen Sie das ein?
Das ist auf das höhere Bevölkerungswachstum zurückzuführen; mehr Leute konsumieren mehr. Europa hat grössere demografische Probleme als die Vereinigten Staaten. Wenn wir aber auf den Konsum pro Kopf schauen, zeichnet sich ein ausgeglicheneres Bild ab.
Die Reallöhne in Amerika steigen, in Europa stagnieren sie oder sinken sogar. Bedeutet das nicht, dass die einzelne Europäerin, der einzelne Europäer ärmer wird?
Die Reallöhne in den USA steigen vor allem durch steigende Staatsausgaben. Joe Biden will die amerikanische Wirtschaft umbauen. Das ist ein sinnvolles Ziel, hat aber zu einer sehr hohen Verschuldung geführt. Irgendwann müssen die Schulden durch höhere Steuern wieder zurückbezahlt werden. Somit ist der Umbau nicht nachhaltig und durch künftige höhere Steuern wird den Konsumentinnen und Konsumenten auch wieder Geld in der Tasche fehlen.
Europa war im Durchschnitt seit den 1980er-Jahren immer etwas ärmer als die USA.
Gibt es gewisse grundsätzliche Nachteile, denen Europa jetzt begegnet?
Im Vergleich gelingt es den USA oftmals, aus Krisen sehr rasch wieder hervorzugehen. Von der Finanzkrise hat sich die EU beispielsweise nur schleppend erholt. Die Schuldenkrise traf zwischen 2008 und 2013 viele Mittelmeerstaaten. Wenn wir aber einen längeren Zeitraum betrachten, ist das Produktivitätswachstum in Europa nicht schlechter als in den USA. Man darf zudem nicht vergessen: Europa war im Durchschnitt seit den 1980er-Jahren immer etwas ärmer als die USA. Dieser Abstand ist in den letzten 30 bis 40 Jahren ungefähr gleich geblieben.
Wo liegen denn die Stärken Europas?
Eine Stärke Europas liegt sicherlich in der Vielfalt. Europa hat viele Sprachen, sowie verschiedene Kulturen, und kann dadurch auch auf viele Herausforderungen reagieren. Die Bevölkerung ist gut gebildet und kann mit neuen Technologien gut umgehen.
Der alte Kontinent ist ein attraktiver Ort zum Wohnen und Arbeiten.
Deshalb spricht man in Europa, zum Teil berechtigt, von einer Gefahr der Deindustrialisierung. Wenn es aber um Dienstleistungen geht, um Lifestyle-Industrien, ist Europa weiterhin sehr aktiv. Der alte Kontinent ist ein attraktiver Ort zum Wohnen und Arbeiten. Viele Menschen kommen nicht nur für Tourismus her, sondern weil es eine stabile und lebenswerte Umgebung ist.
Sie sehen die Zukunft Europas also durchaus positiv, aber die grossen Wachstumsraten sind vielleicht nicht in Europa zu finden?
Europa, wie auch die USA, hat sich immer wieder selber erfunden. Natürlich gibt es Probleme, die man angehen und auf die man sinnvolle Lösungen finden muss. Dennoch ist Europa attraktiv. Wenn es Europa gelingt, hoch qualifizierte Einwanderinnen und Einwanderer anzuziehen, dann sieht es sehr gut aus. Die Schweiz im Zentrum Europas macht das ja vor.
Das Gespräch führte Marius Fleischli.