Wenn immer sich Pronab Sen vom International Growth Center zur Lage der indischen Wirtschaft äussert, weiss man: Jetzt wird es düster. «Es ist besorgniserregend», sagt er. Seit mehr als einem Jahr stagniere die indische Wirtschaft, das Wachstum sei von 8 Prozent auf 4.5 Prozent geschrumpft. Und die Indikatoren deuteten darauf hin, dass es noch weiter schrumpfen könne, sagt Pronab Sen.
Er war unter der jahrzehntelang regierenden Kongresspartei Chefstatistiker und Leiter der Planning Commission, die die einstige Regierung in Wirtschaftsfragen beriet.
Die aktuelle Regierung von Premierminister Narendra Modi ersetzte diese Planungskommission durch die Denkfabrik Niti Aayog. Und wenn Amitabh Kant, der CEO dieser regierungseigenen Denkfabrik, das Wort ergreift, weiss man: Alles wird gut. «Indiens Wirtschaft wächst noch immer», sagt er. Laut seinen Berechnungen um fünf Prozent pro Jahr.
Kant spricht von einer kurzfristigen Abkühlung, doch die Regierung habe grosse strukturelle Reformen durchgeführt, welche die Wirtschaft durchstarten liessen.
Sen und Kant sind sich in einem Punkt einig: Fünf Prozent Wirtschaftswachstum sind nicht genug. Monatlich drängt eine Million neue Arbeitskräfte auf den Markt. Um diese zu beschäftigen, muss die Wirtschaft stärker wachsen.
Damit endet ihre Einigkeit aber auch schon wieder. Die verheissungsvollen Reformen, welche Kant anspricht, sind für Sen der Ursprung allen Übels. Allen voran die Demonetisierung von 2016. Diese entwertete über Nacht alle Tausend- und Fünfhundert-Rupien-Geldscheine – also das meiste Bargeld im Umlauf. So standen die Landwirtschaft und der grosse informelle Sektor ohne Geld da. Etwa 80 Prozent der Arbeitnehmer Indiens haben keine Verträge, erhalten ihren Lohn bar auf die Hand und bekamen damals während mehrerer Monate kein Geld.
Chaos bei Mehrwertsteuer-Einführung
Nur ein halbes Jahr darauf kam ein neuer Schock, so Sen: die landesweite Mehrwertsteuer. Diese vereinfachte zwar den Warentransport im Land, traf aber die Kleinunternehmen. Denn die Einführung dieser Steuer war chaotisch. Zuviel einbezahlte Steuern wurden spät oder gar nicht zurückerstattet. Vielen Kleinbetrieben ging deshalb das Geld aus. Sie mussten ihre Geschäfte schliessen, so Sen. Das habe schliesslich auf den Arbeitsmarkt gedrückt. Denn die meisten Arbeitsplätze schafften in Indien die kleinen und mittleren Betriebe.
Kant sieht das wiederum positiver. Es sei wichtig gewesen, Indiens Schattenwirtschaft aufzuräumen und Kleinunternehmen in ihre steuerliche Pflicht zu nehmen. Man stünde so am Beginn einer langfristigen Wachstumsperiode.
Zehntausende von Stellen gestrichen
Die Indikatoren zeigen jedoch in eine andere Richtung. Auto- und Motorradverkäufe gehen zurück, in Chennai mussten Autohersteller letztes Jahr Zehntausende von Stellen streichen. Dies, obwohl die Regierung mit ihrem Flaggschiff-Projekt «Make in India» internationale Unternehmen anziehen wollte, damit diese künftig in Indien produzieren.
Die Grundlage dazu sei gelegt, sagt Modi-Berater Kant. Dank «Make in India» sei es heute einfacher, in Indien zu produzieren und zu investieren. Auch bei den fehlenden Stellen verweist Kant auf die Zukunft.
Es scheint, als sei das Mantra des baldigen Wirtschaftsaufschwungs in Indien mittlerweile nur noch den Optimisten vorbehalten.
Echo der Zeit, 5.2.2020, 18 Uhr.