Europas Wirtschaft läuft nicht allzu schlecht. Zu diesem Schluss kommt René Hermann, Forschungsleiter von «Independent Credit View» (ICV). Das Institut beurteilt regelmässig die Kreditwürdigkeit von Ländern. Hermann ist Hauptautor des jüngsten ICV-Länderberichts, in dem er die finanzielle Gesundheit von 50 Staaten beleuchtet.
Grosse Unterschiede
Dennoch ist er nicht zufrieden mit dem Gesundheitszustand der Wirtschaft in der EU. «Die Peripheriestaaten wie Portugal oder Griechenland sind noch weit unter dem Stand von vor der Krise», so Hermann. Dagegen hätten die EU-Zentrumsstaaten wie Deutschland und Frankreich den Vorkrisenzustand schon vor längerer Zeit wieder erreicht.
Dass die starken und die schwachen EU-Länder so weit auseinander liegen, bereitet dem ICV-Forschungsleiter Sorgen. Das Problem liege in der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank EZB: Diese flutet die Märkte zwar mit Liquidität, doch dieses Geld kommt nicht wie erhofft in der Realwirtschaft an.
Nun ist die Politik gefragt
Trotz der Liquidität vergeben die Banken also nicht vermehrt Kredite an Unternehmen, wie von der EZB erhofft. Hinzu kommt, dass sich die Firmen vor Investitionen scheuen, ihre Fabriken also nicht ausbauen und keine neuen Arbeitsplätze schaffen. Sie glauben offensichtlich zu wenig daran, dass ihr Geschäft wieder in Schwung kommt und sich so ihre Investitionen schon bald auszahlen könnten.
Für Hermann ist deshalb klar: Die Geldpolitik der EZB stösst an ihre Grenzen. Wenn die Konjunktur in Europa wieder in Schwung kommen soll, müsse nun die Politik das Zepter übernehmen. Der Fachmann plädiert für harte Strukturreformen, etwa um die vielerorts geschwächte Bankenbranche wieder auf Vordermann zu bringen.
Irland und Island als Vorbilder
Dabei verweist Hermann auf Länder wie Irland und Island, die mit ihren Bankenproblemen sehr konkret und effizient umgegangen seien: «Die können sich viele Länder zum Vorbild nehmen.» Irland und Island hätten es mit eiserner Hand und grosser Disziplin – «und ohne expansive Geldpolitik» – geschafft, wieder wettbewerbsfähig zu werden.
Stellt sich nur die Frage, ob diesem Beispiel andere EU-Länder tatsächlich folgen können. «Für einige Länder ist es nach wie vor noch nicht zu spät», schätzt Hermann die Lage ein. Für Länder wie Portugal oder Griechenland dürfte es wegen dem «Korsett der Währungsunion» aber schwierig werden.
Schuldenschnitt unausweichlich?
Es ist keine neue Erkenntnis, dass der Euro für Portugal und Griechenland, die beide Mitglied der Währungsunion sind, eigentlich zu stark ist. Deshalb könnten sie kaum aus eigener Kraft wieder zu wirtschaftlicher Prosperität zurückfinden, so Hermann.
Die Hilfe für Portugal und Griechenland müsse jedoch von der Politik kommen, nicht von der EZB, ist Hermann überzeugt: Früher oder später müsse sich die europäische Politik dazu durchringen, den beiden Ländern einen Teil der Schulden zu erlassen. Doch ein solcher Schuldenschnitt ist politisch höchst umstritten und lässt entsprechend weiter auf sich warten.
Erst wenn diese Probleme gelöst sind, kann die europäische Wirtschaft wohl wieder richtig in Fahrt kommen.