Der Langzeitüberlebende
«Es war eine Zeitbombe, ein Todesurteil auf Raten.» Werner Neth fürchtete sich vor dem Ausbruch der Krankheit Aids und dem Tod. 1986 erfuhr er, dass er HIV-positiv ist. Es sei eine wahnsinnige Belastung gewesen. Rundherum starben Leute.
Auch bei ihm brach Aids aus, aber zum Glück erst 1995. Er überlebte dank einer neuen Behandlung. Heute ist Neth 70. Ausser der einen Pille am Morgen und einem Arztbesuch alle drei Monate zur Kontrolle der Therapie unterscheide sich sein Leben in keiner Weise von dem einer HIV-negativen Person.
Neth spricht offen über HIV. Geoutet, auch in der Familie, hat er sich allerdings erst vor zwei Jahren. Seine Eltern waren bereits verstorben. «Ich wollte niemanden beunruhigen. Ich bin ja eigentlich gesund.»
Die Frage ist, warum ich es überhaupt sagen soll. Ich habe ja die gleiche Lebenserwartung wie HIV-negative Personen.
Dem Leben in der Schweiz auf der Spur – mit all seinen Widersprüchen und Fragen. Der Podcast «Input» liefert jede Woche eine Reportage zu den Themen, die Euch bewegen. Am Mittwoch um 15 Uhr als Podcast, sonntags ab 20 Uhr auf Radio SRF 3.
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Einerseits sieht er die Notwendigkeit eines Outings noch immer nicht ganz. Andererseits sei ihm bewusst, dass man mit einem Outing einen Beitrag dazu leiste, dass über das wichtige und heikle Thema offen gesprochen werde.
In seinem Freundeskreis spreche man nicht über HIV. An der Grillparty werden höchstens Dinge wie Schlafprobleme oder Physiotherapie thematisiert. Werner Neth weiss nicht, wer in seiner Umgebung HIV-positiv ist: «Wir sprechen nicht über HIV. Es scheint ein Tabu zu sein.»
Von Geburt an HIV-positiv
«Ich habe vor acht Jahren einen gesunden Sohn zur Welt gebracht», erzählt Judith. Während ihr Lebenspartner HIV-negativ ist, ist Judith seit ihrer Geburt HIV-positiv.
In ihrer Jugend sei Aids präsent gewesen. Seit die Diagnose HIV-positiv aber kein Todesurteil mehr sei, habe das Interesse abgenommen. «Dass Frauen jetzt sogar stillen können, ist ein Fortschritt, den die Bevölkerung gar nicht mehr mitbekommt», sagt Judith. Viele Leute seien mit ihrem Wissen nicht mehr auf dem aktuellen Stand.
Ich glaube in den Köpfen der Bevölkerung sind immer noch die alten Bilder vom Platzspitz, der Drogenszene, verbunden mit HIV.
Die Aufklärung ist Judith ein grosses Anliegen. Bereits zu Schulzeiten entschloss sie sich, dass sie keine Heimlichkeiten mehr möchte. Sie outete sich. «Es wäre wichtig, dass auch Persönlichkeiten hin stehen würden und sagen, dass sie HIV-positiv sind und es ihnen nichts ausmacht.» Denn es gäbe nach wie vor Missverständnisse.
Erst kürzlich wurde sie von einem Zahnarzt abgelehnt. Das sei verletzend. Noch heute müsse sie erklären, dass ihr Blut nicht ansteckend und das Virus nicht über die Luft übertragbar sei.
Angesteckt im Jahr 2014
«Das kann mir nicht passieren, dachte ich. Das ist so weit weg. In meiner Welt war HIV nicht vorhanden», erzählt Jens* (29). Die Diagnose einer HIV-Infektion mit 22 Jahren habe ihm den Boden unter den Füssen weggerissen. «Ich internalisierte die gängigen Stigmata: Jetzt bin ich krank. Man sieht es mir sicher an. Jetzt werde ich ausgeschlossen.»
Workshops mit anderen Betroffenen halfen ihm aus der anfänglichen Lebenskrise. Heute weiss er: «Nichts schränkt mich ein.» Jens spricht über seine HIV-Infektion, auch an Veranstaltungen. Er rät: «Wertet euch nicht ab, egal in welcher Form. HIV-Positive sind keine schlechteren und auch keine kränkeren Menschen.»
In seiner Familie wissen trotzdem nicht alle von seiner Diagnose. Das sei besser so, «aus Gründen», meint Jens. «Ein Outing und die damit verbundene Aufklärungsarbeit wären anstrengend und mit Schmerz verbunden.» Das sei nicht nötig.
Ich fürchte die Stigmatisierung und die Frage: 'Warum hast du es nicht von Anfang an gesagt?'
In der queeren Community ist man gemäss Jens gut aufgeklärt. Im Alltag wird er aber immer wieder mit seiner Krankheit konfrontiert. Noch immer sei viel Aufklärung nötig. Erst kürzlich habe er im Spital angeben müssen, ob er HIV-positiv sei oder nicht. Rechtlich sei das nicht mehr zulässig. «Das bringt dich in Bedrängnis. Sollst du jetzt lügen oder nicht?» Schon sei man bei der Stigmatisierung.
*Name geändert