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40 Jahre Aids Zwischen Tabu und Angst – Leben mit HIV

Einst ein Schreckgespenst, heute eine chronische Krankheit. Doch gewisse Vorurteile über HIV halten sich bis heute.

Der Langzeitüberlebende

«Es war eine Zeitbombe, ein Todesurteil auf Raten.» Werner Neth fürchtete sich vor dem Ausbruch der Krankheit Aids und dem Tod. 1986 erfuhr er, dass er HIV-positiv ist. Es sei eine wahnsinnige Belastung gewesen. Rundherum starben Leute.

Auch bei ihm brach Aids aus, aber zum Glück erst 1995. Er überlebte dank einer neuen Behandlung. Heute ist Neth 70. Ausser der einen Pille am Morgen und einem Arztbesuch alle drei Monate zur Kontrolle der Therapie unterscheide sich sein Leben in keiner Weise von dem einer HIV-negativen Person.

Mann mit Brille
Legende: Seit 1986 weiss Werner Neth, dass er HIV-positiv ist. Heute ist er 70 und hat die selbe Lebenserwartung wie HIV-negative Menschen. zVg

Neth spricht offen über HIV. Geoutet, auch in der Familie, hat er sich allerdings erst vor zwei Jahren. Seine Eltern waren bereits verstorben. «Ich wollte niemanden beunruhigen. Ich bin ja eigentlich gesund.»

Die Frage ist, warum ich es überhaupt sagen soll. Ich habe ja die gleiche Lebenserwartung wie HIV-negative Personen.
Autor: Werner Neth (70) weiss seit 1986, dass er HIV-positiv ist

Einerseits sieht er die Notwendigkeit eines Outings noch immer nicht ganz. Andererseits sei ihm bewusst, dass man mit einem Outing einen Beitrag dazu leiste, dass über das wichtige und heikle Thema offen gesprochen werde.

In seinem Freundeskreis spreche man nicht über HIV. An der Grillparty werden höchstens Dinge wie Schlafprobleme oder Physiotherapie thematisiert. Werner Neth weiss nicht, wer in seiner Umgebung HIV-positiv ist: «Wir sprechen nicht über HIV. Es scheint ein Tabu zu sein.»

HIV und Aids in der Schweiz

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Legende: Keystone
  • In der Schweiz leben knapp 17'000 Menschen mit HIV. 2019 wurden in der Schweiz 421 neue HIV-Diagnosen gestellt. In den 1990er-Jahren waren es im Durchschnitt 1'300 Fälle pro Jahr.
  • Vier von fünf Ansteckungen betreffen Männer. Wie in den Vorjahren wurde 2019 von Männern mit HIV-Diagnose am häufigsten Sex mit anderen Männern als Ansteckungsweg genannt (49,1%).
  • Aids bricht pro Jahr bei rund 70 HIV-positiven Personen aus. Das ist der Schnitt über die vergangenen fünf Jahre. Drei von vier Aids-Patient:innen sind heterosexuelle Personen. Erstaunlicherweise. Denn die Aidshilfe Schweiz geht davon aus, dass viele heterosexuelle Personen nichts von ihrer Infektion wussten bis zum Ausbruch von Aids, wobei das regelmässige Testen bei homosexuellen Männern verbreitet ist und daher eine HIV-Infektion eher festgestellt wird.

Von Geburt an HIV-positiv

«Ich habe vor acht Jahren einen gesunden Sohn zur Welt gebracht», erzählt Judith. Während ihr Lebenspartner HIV-negativ ist, ist Judith seit ihrer Geburt HIV-positiv.

Frau mit Brille
Legende: Judith: «Mein Immunsystem ist geschwächt. Mit 29 war ich nun das erste Mal ein Jahr lang nicht krank. Das hat sicher auch mit der Maskenpflicht zu tun.» zVg

In ihrer Jugend sei Aids präsent gewesen. Seit die Diagnose HIV-positiv aber kein Todesurteil mehr sei, habe das Interesse abgenommen. «Dass Frauen jetzt sogar stillen können, ist ein Fortschritt, den die Bevölkerung gar nicht mehr mitbekommt», sagt Judith. Viele Leute seien mit ihrem Wissen nicht mehr auf dem aktuellen Stand.

Ich glaube in den Köpfen der Bevölkerung sind immer noch die alten Bilder vom Platzspitz, der Drogenszene, verbunden mit HIV.
Autor: Judith (29) ist seit ihrer Geburt HIV-positiv

Die Aufklärung ist Judith ein grosses Anliegen. Bereits zu Schulzeiten entschloss sie sich, dass sie keine Heimlichkeiten mehr möchte. Sie outete sich. «Es wäre wichtig, dass auch Persönlichkeiten hin stehen würden und sagen, dass sie HIV-positiv sind und es ihnen nichts ausmacht.» Denn es gäbe nach wie vor Missverständnisse.

Erst kürzlich wurde sie von einem Zahnarzt abgelehnt. Das sei verletzend. Noch heute müsse sie erklären, dass ihr Blut nicht ansteckend und das Virus nicht über die Luft übertragbar sei.

Was ist HIV? Was ist AIDS?

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Legende: Colourbox

Aids steht für «Acquired Immune Deficiency Syndrome» und bedeutet «erworbenes Immunschwächesyndrom». Dabei handelt es sich um die Spätfolge einer Infektion mit dem HI-Virus, «Human Immunodeficiency Virus».

Das HI-Virus zerstört bestimmte Zellen des Immunsystems und schwächt dadurch nach und nach die Abwehrkraft des Körpers. Der Verlauf einer HIV-Infektion wird in verschiedene Stadien eingeteilt. Aids bezeichnet jenes Stadium, in dem das Immunsystem so stark geschwächt ist, dass die Diagnose mindestens einer der Aids-definierenden Infektions- oder Tumorerkrankungen vorliegt.

Therapie und Ansteckungsgefahr: Die Medizin kann HIV nicht heilen. Doch gibt es Medikamente, mit denen die HIV-Infektion wirksam behandelt und kontrolliert werden kann. HIV-positive Menschen sind grundsätzlich nicht mehr ansteckend, wenn sie ihre HIV-Therapie nach Plan befolgen und wenn ihre Virenlast nicht mehr nachweisbar ist. Sie können also ungeschützten Sex haben, ohne zu befürchten, dass sie ihren Partner oder ihre Partnerin anstecken.

Angesteckt im Jahr 2014

«Das kann mir nicht passieren, dachte ich. Das ist so weit weg. In meiner Welt war HIV nicht vorhanden», erzählt Jens* (29). Die Diagnose einer HIV-Infektion mit 22 Jahren habe ihm den Boden unter den Füssen weggerissen. «Ich internalisierte die gängigen Stigmata: Jetzt bin ich krank. Man sieht es mir sicher an. Jetzt werde ich ausgeschlossen.»

Mann vor Fenster Symbolbild
Legende: «In ,einer Welt gibt es kein HIV», dachte Jens*. Die Diagnose HIV-positiv war für den damals 22-Jährigen ein Schock. (Symbolbild) Daniil Onischenko / Unsplash

Workshops mit anderen Betroffenen halfen ihm aus der anfänglichen Lebenskrise. Heute weiss er: «Nichts schränkt mich ein.» Jens spricht über seine HIV-Infektion, auch an Veranstaltungen. Er rät: «Wertet euch nicht ab, egal in welcher Form. HIV-Positive sind keine schlechteren und auch keine kränkeren Menschen.»

In seiner Familie wissen trotzdem nicht alle von seiner Diagnose. Das sei besser so, «aus Gründen», meint Jens. «Ein Outing und die damit verbundene Aufklärungsarbeit wären anstrengend und mit Schmerz verbunden.» Das sei nicht nötig.

Ich fürchte die Stigmatisierung und die Frage: 'Warum hast du es nicht von Anfang an gesagt?'
Autor: Jens* (29) Steckte sich mit 22 mit HIV an

In der queeren Community ist man gemäss Jens gut aufgeklärt. Im Alltag wird er aber immer wieder mit seiner Krankheit konfrontiert. Noch immer sei viel Aufklärung nötig. Erst kürzlich habe er im Spital angeben müssen, ob er HIV-positiv sei oder nicht. Rechtlich sei das nicht mehr zulässig. «Das bringt dich in Bedrängnis. Sollst du jetzt lügen oder nicht?» Schon sei man bei der Stigmatisierung.

*Name geändert

Radio SRF 3, Sendung «Input», 12.9.2021, 20 Uhr; Beatrice Gmünder

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