Die Coronakrise hat die Menschen weltweit zum Rückzug gezwungen. Forscher sehen in dieser sogenannten «Anthropause» eine historische Chance, um neue Erkenntnisse über unseren Einfluss auf die Wildtiere zu finden. Zu Beginn des ersten Lockdowns riefen drei Wildtierbiologen ihre Kolleginnen und Kollegen weltweit dazu auf, Tracking-Daten von Wildtieren zu teilen. Im Interview erzählt Matthias Loretto, was bisher herausgefunden wurde.
SRF: Herr Loretto, weshalb taufte ihr Team die Zeit seit dem Lockdown «Anthropause»?
Matthias Loretto: Die Anthropause [Anthropos, griechisch für Mensch] bezeichnet die kurze Pause im menschlichen Betrieb. Wir reisen weniger, die Strassen sind leerer, die Leute bleiben zu Hause. Das Wort wurde bisher ganz gut aufgenommen, das Oxford Dictionary wählte es beispielsweise zu einem der Wörter des letzten Jahres.
Sie bezeichnen diese Anthropause als einmalige Chance für die Forschung, weshalb?
Eine quasi experimentelle Situation wie diese, wo praktisch überall auf dem Globus die Aktivität der Menschen reduziert wurde, gab es noch nie. Diese Chance müssen wir nutzen, um Fragen über Mensch-Tier-Interaktionen zu stellen, die wir auf dieser Skala nie stellen konnten. Wir sammeln nun die Bewegungsdaten von besenderten Tieren auf der ganzen Welt: Vor, während und nach des Lockdowns und vergleichen die dann. So erhoffen wir uns besser zu verstehen, wie die Tiere auf uns reagieren.
Wonach halten Sie genau Ausschau?
Wir fragen zum Beispiel: Überqueren Rehe und Hirschen die «dank» des Lockdowns beinahe leeren Strassen an anderen Stellen als üblicherweise? Falls das so ist, könnten die Verkehrsnetze optimiert werden – etwa durch das Bauen oder Versetzen einer Wildtierpassage am bestmöglichen Standort. Ähnliche Fragen stellen sich im maritimen Raum. Nach 9/11 wurde der Schiffsverkehr vor New York enorm reduziert und Studien zeigten, dass Wale schnell zurückkamen und weniger Stresshormone zeigten als vorher.
In den USA fand man heraus, dass Singvögel, die normalerweise mit ihrer Stimme gegen den Verkehrslärm ankämpfen müssen, während der Corona-Zeit nun leiser singen.
Es geht also auch darum zu schauen, wie flexibel die Tiere überhaupt reagieren können?
Genau. Sehen wir, dass Tiere sich zum Beispiel für die Nahrungssuche oder zur Fortpflanzung schnell an neue Orte wagen, sobald der Mensch weg ist, ist das ein gutes Zeichen. Diese Tiere können wir bei Bedarf schnell unterstützen, indem wir zum Beispiel für sie Schutzgebiete schaffen. Tiere, die über Generationen vom Menschen legal oder illegal bejagt wurden, werden ihre Ängste meist langsamer ablegen, ihr Verhalten langsamer ändern – da wird es schon schwieriger, sie schützen, es kann länger dauern, dass sie Schutzgebiete annehmen.
Sie sprechen im Konjunktiv. Gibt es noch keine konkreten Resultate?
Nein. Bis die Unmengen von Daten ausgewertet sind, dauert es eine Weile. Wir bauen gerade die Infrastruktur auf. Auch sind die Messmethoden vom Spatzen über den Blauwal sehr unterschiedlich. Ein konkretes Beispiel kann ich aber machen. In einem städtischen Gebiet in den USA fand man heraus, dass Singvögel, die normalerweise mit ihrer Stimme gegen den Verkehrslärm ankämpfen müssen, während der Corona-Zeit nun leiser singen. Ohne den Verkehrslärm kehren sie also schnell auf ihr natürliches «Singniveau» zurück. Ein gutes Zeichen, so können sie ihre Energie wieder anderswo einsetzen. Sowas könnte sich auch positiv auf ihr Brutverhalten einwirken.
Die Menschen scheinen durch die Corona-Massnahmen generell wieder vermehrt auf die Natur zu schauen.
Ja, ich bin begeistert darüber, wie vielen Menschen im Lockdown die Augen geöffnet wurden. Viele Leute hören plötzlich die Vögel singen und freuen sich darüber. Während des Lockdowns haben viele auch wieder gespürt, wie wichtig die Grünräume vor der Haustüre sind. Dieses Bewusstsein hilft, wenn es darum geht, Massnahmen zum Schutz der Wildtiere und Biodiversität im Allgemeinen umzusetzen. Geht es der Natur gut, dann geht es uns gut – Corona ist das beste Beispiel dafür, was passieren kann, wenn der Umgang des Menschen mit der Natur nicht stimmt. Auf unserem Planeten wird es immer enger und wir müssen ein gutes, gesundes Zusammenleben finden.
Hätten Sie uns einen professionellen Tipp für die Wildtierbeobachtung?
Der beste Ratschlag ist: Viel Zeit und Geduld! Man wird nicht sofort die tollsten Beobachtungen machen, aber aus Erfahrung sag ich gern: Je länger man zuschaut, desto mehr Spass macht es. Plötzlich beginnt man Muster oder einzelne Verhaltensweisen zu erkennen. Beispielsweise sind Krähen für mich alles andere als langweilige Allerweltsarten. Gerade in der Stadt hat man fast ständig Gelegenheit sie zu beobachten und jetzt kurz vor der Brutsaison sehe ich oft schon aus dem Augenwinkel, wenn eine Krähe mit Imponiergehabe auf ihr Territorium hinweist. Auch ein Vogelhaus im Garten eignet sich für interessante Beobachtungen, wenn man auf Details achtet: Welche Arten kommen überhaupt, wie reagieren einzelne Vögel aufeinander, fressen sie gemeinsam, verjagen sie sich? Es tut sich eine ganz eigene Welt auf.
Das Gespräch führte Patricia Banzer.
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