Streng genommen gibt es Schweizerdeutsch gar nicht. Jedenfalls nicht als eigenständiges Sprachsystem innerhalb der Landesgrenzen. Schaffhauserdeutsch etwa unterscheidet sich stark vom Lötschentaler Dialekt, hingegen praktisch gar nicht vom Klettgauer Dialekt ennet der Grenze. Auch ein gemeinsames Standardschweizerdeutsch existiert (glücklicherweise) nicht.
Wie fremd ist Hochdeutsch?
Und doch empfinden wir die Deutschschweizer Mundarten als Muttersprache. Und Hochdeutsch als Fremdsprache, weil wir sie in der Schule lernen müssen. Aber: In der Schule lernen wir vor allem schreiben, also die Schriftsprache als grammatikalisches und orthografisches Regelsystem. Verstanden haben wir die Deutschen schon vorher und konnten einigermassen mit ihnen reden. Schliesslich ist Hochdeutsch bei uns in den Medien und dank vielen Fremdsprachigen im Land omnipräsent.
Zudem ist der sprachliche Abstand viel geringer als etwa zum Französischen, das wir von Grund auf und mit viel Aufwand erlernen müssen. Standarddeutsch dagegen, als gemeinsame Dachsprache im deutschen Sprachraum, ist aus den Mundarten entstanden. So fremd kann es uns also gar nicht sein.
Ein Dialektkontinuum zwischen Nord und Süd
Wenn sich Mundart nicht an Staatsgrenzen hält, dann taugt vielleicht gegenseitige Verständlichkeit als Abgrenzungskriterium. Vergleichen wir etwa «Seislertütsch» mit «Friesisch», dann unterscheiden sich Wörter, Grammatik, Satzbau und vor allem der Klang in der Tat gewaltig. Aber wo ist die Grenze?
Zwischen dem Wallis und der Waterkant, also der norddeutschen Küste, verläuft ein Dialektkontinuum. Das bedeutet: Alle benachbarten Regionen verstehen einander problemlos. Aber mit zunehmender Distanz nimmt die Verständlichkeit ab. Irgendwann muss man das Standarddeutsche, die Dachsprache eben, zu Hilfe nehmen.
Englische Ausdrücke, eigenartige Pluralformen oder Germanismen: Der schöne Schweizer Dialekt geht bachab. Wie schlimm steht es um unsere Sprache? Nadia Zollinger ist besorgt, doch SRF-Dialektforscher Markus Gasser sieht die ganze Sache lockerer.
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Schweizerdeutsch ein Ausbaudialekt?
Ein wichtiges Kriterium für die Eigenständigkeit einer Sprache ist ihr Ausbaugrad. Also: Ob es eine Schreibnorm, Wörterbücher, Grammatiken gibt; ob sie eine selbständige Literatur hat; ob man sie für kulturelle und wissenschaftliche Texte benutzt; ob sie eine Amtssprache ist.
Wieder schwierig für die Deutschschweizer Mundarten, weil teilweise ja (Wörterbücher, Grammatiken, Mundartliteratur, zunehmende Schriftlichkeit), teilweise nein (Sachtexte, Amtssprache). Da hat es das Lëtzeburgische einfacher: Dieser moselfränkische Dialekt wurde 1984 in Luxemburg als Nationalsprache und, neben Französisch und Standarddeutsch, als Amtssprache definiert.
«A shprakh iz a dialekt mit an armey un flot»
Das Beispiel Luxemburg bestärkt, was der Jiddischforscher Max Weinreich 1944 trefflich formuliert hat: «Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Flotte». Ob ein Dialekt als Sprache gilt, ist also eher eine politische als eine linguistische Entscheidung. Und Schweizerdeutsch steht nicht einmal in der Bundesverfassung. Keine eigene Sprache also, aber immerhin eine Muttersprache!