Die Nordostschweiz wird heute als vergleichsweise einheitliche Dialektregion wahrgenommen. Kaum jemand von ausserhalb kann die Dialekte der Kantone Schaffhausen, Thurgau und St. Gallen unterscheiden. Im «Kleinen Sprachatlas der deutschen Schweiz» (KSDS), der auf Umfragen aus den 1940/50er-Jahren basiert, finden sich jedoch viele typische Nordostschweizer Eigenheiten.
Das «ou» wurde in weiten Teilen des Thurgaus und des St. Galler Fürstenlandes sowie im Nordwesten des Kantons Schaffhausen zu «o» verändert, also monophthongiert. Aus dem mittelhochdeutschen «boum» (dem Baum) wurde im Nordosten «Bomm». Und auch das «ei» wurde verändert. In der Nordostschweiz wurde es zum «aa».
Typische Dialektmerkmale verschwinden
Eine grosse Vielfalt zeigt der KSDS auch bei den Namen für die Ameise: In Schaffhausen verzeichnet er «Ummoosse», «Oomisse» und «Wurmaasle», im Thurgau «Wurmbasle» und im St. Galler Fürstenland «Embesse». Nur in der Stadt St. Gallen und östlich davon zeigt sich die «Ameise».
Das Problem mit diesen Karten: Sie basieren wie erwähnt auf Erhebungen aus den 1940/50er-Jahren. Wegen des rasanten Sprachwandels im 20. und 21. Jahrhundert sind sie längst überholt.
In der Nordostschweiz sagt heute kaum jemand mehr «Gaass» oder «Bomm». Auch «Ummoosse», «Wurmbasle» und «Embesse» wurden wohl längst von der «Ameise» verdrängt. Und viele weitere typisch nordostschweizerische Dialektmerkmale sind am verschwinden. (Einige, die heute noch verbreitet sind, finden Sie im obigen Video.)
Erstaunlich: «gireizle» breitet sich aus
Mindestens ein typisch nordostschweizerdeutsches Wort ist hingegen nicht zurückgegangen, sondern hat sich sogar ausgebreitet. Der Ausdruck «gireizle» für 'seilschaukeln' war um 1940/50 lediglich in Teilen der Kantone Thurgau, St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden gebräuchlich.
Ein Team der Uni Bern um den Linguisten Adrian Leemann arbeitet aktuell an einer Neuauflage des «Sprachatlas der deutschen Schweiz», auf dem die obigen Karten basieren. Dafür haben sie 2020 erneut in der ganzen Deutschschweiz Erhebungen durchgeführt.
Und siehe da: «gireizle» ist mittlerweile in der Stadt Zürich und gar im östlichen Aargau angekommen und hat dort «ritiseile» verdrängt.
Was verhilft «gireizle» zum Siegeszug?
Dass sich Dialektwörter aus dem Nordosten nach Westen ausbreiten, ist selten, bestätigt Adrian Leemann: «Es handelt sich um eine sogenannte kontra-hierarchische Diffusion, also um die Etablierung eines ländlichen Dialektmerkmals in der Stadt». Normalerweise verläuft der Dialektwandel umgekehrt, wie das Verschwinden von «Gaass», «Bomm» und «Wurmaasle» etc. zeigt.
Warum also vermag «gireizle» das einst weitverbreitete «ritiseile» zurückzudrängen? Am gleichnamigen Song der populären St. Galler Band Dachs wird es kaum liegen – dieser ist erst 2018 herausgekommen.
Zuwanderung aus dem Nordosten
Adrian Leemann vermutet die Ursache in der Zuwanderung: «Thurgauerinnen und St. Galler, die nach Zürich gezogen sind, könnten «gireizle» mitgebracht haben. So dürfte das Wort auf den Zürcher Spielplätzen – wo ja geschaukelt wird – gelandet sein.» Und vielleicht wegen der «herzigen» «-zle»-Endung habe «gireizle» das angestammte «ritiseile» verdrängt.
Dass bald die ganze Deutschschweiz «gireizlet» ist jedoch nicht anzunehmen. Dafür ist der Regionalstolz in Basel oder Bern wohl zu stark.