Vielleicht mutet es bekannt an: Man begibt sich aufs öffentliche WC, jedoch ist der Raum genau so voll wie die eigene Blase. Und plötzlich geht nichts mehr. Viele Menschen können in der Öffentlichkeit nicht urinieren – aus Angst, beobachtet oder bewertet zu werden.
Die sogenannte schüchterne Blase ist eine soziale Angststörung. Psychologe Jannis Behr erklärt, was hinter dem Phänomen steckt – und was hilft.
SRF: Wie häufig ist das Symptom der schüchternen Blase?
Jannis Behr: Es ist schwierig zu sagen, wie viele Menschen davon betroffen sind, da das Thema sehr schambehaftet ist. Aber wir gehen davon aus, dass es ungefähr 7 Prozent der Menschen betrifft. Männer betrifft es etwa neunmal häufiger als Frauen. Es gibt Unterschiede – einige kennen es, sind jedoch nicht in ihrem Alltag eingeschränkt.
Die schüchterne Blase gilt als soziale Angststörung. Was passiert da?
Die soziale Angststörung ist eine psychische Erkrankung, die überall auftreten kann, wo es um Verhalten geht, das von anderen Menschen gesehen werden und negativ bewertet werden kann. Zum Beispiel bei einem Vortrag, einer mündlichen Prüfung, beim Essen in der Öffentlichkeit oder eben beim Urinieren in der Öffentlichkeit.
Die Schultoilette ist ein Ort, an dem viel Mobbing stattfindet.
Menschen mit sozialen Ängsten befürchten immer, dass ihr Verhalten negativ bewertet wird und sie im Fokus der Aufmerksamkeit stehen.
Was sind Ursachen?
Häufig berichten Menschen, dass sie einmal ein unangenehmes Ereignis hatten, als sie nicht Wasser lösen konnten und sich daraus der Gedanke gebildet hat «Was ist, wenn es das nächste Mal wieder passiert». Eine Art Erwartungsangst. Dann gibt es auch Menschen, die wiederholt sehr negative Erfahrungen gemacht haben, zum Beispiel durch Mobbing in der Schulzeit. Die Schultoilette ist ein Ort, an dem viel Mobbing stattfindet.
Wenn sich Menschen damit an Sie wenden, wie gehen Sie vor?
Ich bin erst einmal sehr froh, wenn sich Menschen an Fachpersonen wenden. Wir würden gemeinsam anschauen, in welchen Situationen sich das Problem zeigt, woher es kommen kann, wie es aufrechterhalten wird und dann, im Hauptteil der Behandlung, würde ich die Verhaltenstherapie mit Exposition empfehlen.
Zum Wasserlösen muss man sich entspannen können. Dabei sind Muskeln beteiligt, die sich nur öffnen, wenn man ruhig ist.
Das bedeutet, dass man übt, sich genau der Situation zu stellen, die man bisher vermeidet, nämlich aufs WC im öffentlichen Raum zu gehen. Was auch hilft, sind Entspannungsverfahren. Unterstützen kann zum Beispiel die progressive Muskelentspannung.
Entspannung scheint ein wichtiger Punkt bei dem Thema.
Ja, zum Wasserlösen ist es wichtig, dass man sich entspannen kann. Denn es sind Muskeln beteiligt, die sich vor allem dann öffnen, wenn man entspannt ist. Jedoch ist das, was passiert, dass Betroffene Angst haben. Und Angst ist genau das Gegenteil von Entspannung.
Das, was zu Angst führt, sind Gedanken wie «Was ist, wenn mich jemand anderes negativ bewertet?», dass jemand mitbekommt, dass ich nicht aufs WC kann, es hört, oder selbst viel schneller ist. Das ist wie das Öl, das ins Feuer der Angst gegossen wird.
Das Gespräch führte Rika Brune.