«Wir haben Besseres verdient», schreibt ein Fan über die Neuauflage der «Anthology» auf Reddit. Der Ärger ist gross – vielleicht gerade deshalb, weil die «Anthology» für viele fast heilig ist: Endlich miterleben, wie Ringo Starr seinen Kumpels das erste Mal «Octopus's Garden» vorspielt – die Beatles «Anthology» macht's möglich und bietet sozusagen einen Küchenbesuch bei den «Fab Four».
Nirgends offenbart sich ihr Zauber direkter, als wenn man der grössten Popband aller Zeiten ungestört beim Zubereiten zuhört.
Ursprünglich als Projekt von den damals noch drei lebenden Beatles nach John Lennons Tod initiiert, wurden 1995 mit der «Anthology» hunderte Outtakes und Raritäten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Drei Tonträger Demoaufnahmen, gefolgt von Doku-Filmen und einem Buch, in dem die Beatles höchstpersönlich ihre Geschichte aufrollen.
Das schlug ein. Vor allem Dank dem damals noch unveröffentlichten Song «Real Love». Der erneute Beatles-Hype explodierte mitten in den Britpop-infizierten 90er-Jahren. So, dass die Plattenfirma vor dem Release einen Sicherheitsdienst anheuern musste, um die seltenen Songperlen zu schützen.
Die vierte Neuauflage der «Anthology» wird 2025 weniger hohe Wellen schlagen. Vorerst löst sie eher Unmut aus.
Nichts Neues
Hässig sind die Fans vor allem, weil auf der «Anthology» nichts bahnbrechend Neues veröffentlicht wird. Hinzu kommt, dass der heilige Gral aller Beatles-Demos, das ominöse Avantgarde-Sound-Monster «Carnival of Light» nun nicht auf der Neuausgabe ist, obwohl Sir Paul McCartney dies unlängst in Erwägung zog.
«Ich habe das Gefühl, dass sie uns anpissen und es Regen nennen», schreibt ein enttäuschter Fan. Im gleichen Zug wird moniert, dass der nun nachgeschobene vierte Teil willkürlich kuratiert sei und damit das Beatles-Raum-Zeit-Kontinuum der ursprünglichen «Anthology»-Trilogie durcheinander gebracht wird.
Möglich. Aber letztlich wird in den Kommentarspalten der kursierenden Youtube-Videos auch auf hohem Niveau genörgelt.
Dennoch wertvoll
Die positive Perspektive: Die «Anthology 4» ergänzt die bestehenden Tonträger mit noch mehr Goldstücken. Bei keiner Band sind alternative Takes, Schnitzer und Experimente so spannend und aufschlussreich, wie bei der ersten veritablen Popband der Welt. Jede Sekunde der Neuauflage gewährt Einblick in tiefere Schichten kollektiven Popkulturguts.
Nicht nur deshalb dürfte ohne Scheu auch noch eine fünfte und sechste Ausgabe veröffentlicht werden. Kaufen muss es ja nur, wer will und kann: die komplette 12-teilige Vinyl-Neuauflage kostet 340 Franken.
Klanglich lohnt es sich: Giles Martin, «Now And Then»-Wiederbeleber und Sohn der ehemaligen Beatles-Produzenten-Legende George Martin, verpasste den nun neu releasten Aufnahmen eine Verjüngungskur. So feinfühlig, dass das Leben der Demos mehr zur Geltung kommt, ohne dass sie ihre Seelen verlieren.
Die Fackel weiterreichen
Ob die Hardcore-Fans nun zufrieden sind oder nicht, die Wiederveröffentlichung wird sich rechnen. Nicht nur für Paul McCartney, Ringo Starr und die Plattenfirma: Im besten Fall macht sich die Neuauflage auch für eine junge Generation bezahlt, die dank Streaming-Diensten in ein paar Tagen die restaurierte «Anthology»-Dok-Serie entdecken können, und sich damit womöglich die Tür in die Betriebsküche der Beatles öffnet.