Lange, bevor es hell wird, ist Rita de Cacio bereits mit ihrem Pinsel unterwegs. «Der Staub frisst sich überall hinein, besonders in die feinen Ritzen der Bilderrahmen. Mit einem gewöhnlichen Lappen kann ich da nichts ausrichten», erzählt die Gouvernante, die im Restaurant Kronenhalle dafür sorgt, dass alles blitzblank ist.
Ihre besondere Sorgfalt gilt dabei den zahlreichen Werken bedeutender Künstler, die dieses Gasthaus in der Zürcher Innenstadt zu einem legendären Ort machen. Mit Saucenspritzern auf einem Mirò oder Picasso ist also zu rechnen, umso gründlicher die tägliche Pflege.
Bisweilen verneigt sich Rita auf ihrer täglichen Runde vor dem lebensgrossen Porträt der Kronenhalle-Gründerin Hulda Zumsteg: «Bei ihr gebe ich mir speziell Mühe – ihr haben wir das alles schliesslich zu verdanken.»
Gleichzeitig mit Rita de Cacio ist zwei Etagen tiefer auch Peter Schärer bereits an der Arbeit. Der Küchenchef will vor Ort sein, wenn die Bestellungen eintreffen. Aus gutem Grund, wie er findet: «Es kann vorkommen, dass ich bereits vor 8 Uhr morgens hässig bin. Wie heute zum Beispiel, wenn anstatt 40 Kilo Scampi nur 4 Kilos geliefert werden.»
Schärer kocht seit über 30 Jahren in der Kronenhalle und weiss haargenau, was seine Gäste wünschen.
Sehen und gesehen werden – das gehört hier dazu.
«Mir ist klar, dass viele nicht in erster Linie wegen dem Essen kommen, sondern wegen dem ganzen Rundherum. Sehen und gesehen werden – das gehört hier dazu.» Am Anfang seiner Karriere habe ihn das manchmal schon gestört, schliesslich sei Kochen seine Leidenschaft.
Aber Schärer hat sich längst ausgesöhnt, die Liebe zu «seiner» Kronenhalle geht tief: «Ich habe Gustav Zumsteg, dem verstorbenen Besitzer, persönlich versprochen, dass ich sein Erbe in Ehren halten werde.»
Edle Tropfen
Das gediegene Ambiente, die wertvolle Kunst und der vollendete Service haben ihren Preis: Wer in der Kronenhalle einkehrt, muss sich auf eine zünftige Rechnung einstellen. Auch die Skala der Weinpreise ist gewissermassen nach oben offen.
Die teuerste Flasche, die momentan im Angebot ist, kostet satte 23’000 Franken.
Fabian Brunori, der stellvertretende Einkäufer, beantwortet die Frage nach der Verhältnismässigkeit diplomatisch: «Was einem einen Wein wert ist, muss jeder selbst entscheiden.»
Die Nachfrage jedenfalls besteht. Weine vom gleichen Hersteller für 7500 Franken werden mehrmals jährlich verkauft und auch Champagner für 1900 Franken pro Flasche findet Absatz.
Beliebte Brasserie
Kurz vor 12 Uhr mittags wird es eng im Eingang vor der Brasserie. «Wir öffnen immer bereits ein paar Minuten früher», lacht Dominique Godat. Der Berner wirkt hier als Geschäftsführer. Nach Stationen als Direktor im St. Moritzer Hotel Kulm oder im Moskauer Metropol zog es ihn 2019 an die Limmat.
Nachdem Restaurantleiterin Julia Scussel das Personal für den anstehenden Mittagsservice gebrieft hat, öffnet Godat die Türen: «Willkommen in der Kronenhalle.»
Wer keinen Platz reserviert hat, hat kaum Chancen auf einen Tisch, schon gar nicht im beliebtesten Teil des Restaurants, der Brasserie eben. «Das ist wie Tetris spielen», erzählt die Restaurantleiterin, «es ist fast unmöglich, alle Wünsche zu erfüllen. Es gibt Gäste, die schicken uns eine Skizze mit dem Tisch, an dem sie sitzen möchten.»
Besonders begehrt ist der Platz unter dem grossen Porträt von Hulda Zumsteg, das der Schweizer Künstler Varlin 1967 auf Veranlassung von Gustav Zumsteg gemalt hat, oder auch derjenige bei Marc Chagalls Sonnenuntergang.
Dass auf Julia Scussels Namensschild auch ihr Titel als Restaurantleiterin vermerkt ist, hat sie übrigens selbst veranlasst. Die eher konservative Klientel sei an Männer als Chefs gewohnt und habe sie oft wie selbstverständlich als Assistentin oder Platzierdame wahrgenommen.
«Wie eine Familie»
Robert Zeller ist der einzige Verwandte der Gründerfamilie Zumsteg, der noch in der Kronenhalle arbeitet. Vor 40 Jahren hat er hier in der Küche die Lehre gemacht, mittlerweile arbeitet er als Souschef.
Seine Arbeit liebt er, als Gast indes würde er sich im Restaurant nicht wohlfühlen. Er sei ein bodenständiger Mensch, sagt er, der zwar mit grosser Gewandtheit Austern für seine exklusiven Gäste knackt, aber selbst am liebsten «Gschwellti» oder auch mal einen Cervelat isst.
Die Verwandtschaft mit seiner Grosstante Hulda Zumsteg habe ihm nie Vorteile gebracht, das sei für ihn eher unangenehm gewesen, erinnert er sich.
Diese berühmten Gäste speisten in der Kronenhalle
Auch ohne verwandtschaftliche Bande: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benutzen oft den Begriff «Familie», wenn sie über ihre Arbeitgeberin sprechen.
Das äussert sich einerseits darin, dass viele von ihnen seit Jahrzehnten in der Kronenhalle arbeiten. Zudem herrscht im Team offenbar eine grosse Verbundenheit, auch dank der spürbaren Verpflichtung gegenüber dem Erbe der Gründer.
Auch heute noch schliessen wir die Schubladen nur ganz vorsichtig, weil wir wissen, dass Gustav Zumsteg den Lärm nicht vertrug.
«Das geht in die DNA über», erzählt Natasha Djukic. Sie arbeitet seit zehn Jahren im Service als Chef de Rang. «Auch heute noch schliessen wir die Schubladen nur ganz vorsichtig, weil wir wissen, dass Gustav Zumsteg den Lärm nicht vertrug.»
Genauso treu wie die Mitarbeitenden sind die Gäste. Mehrere hundert Stammgäste gehen in der Kronenhalle ein und aus.
So regelmässig, dass die Küchencrew ihnen zuweilen sogar Spitznamen verpasst – selbsterklärend, wieso einer von ihnen «Brokkoli» heisst. Dass für ihn pochierter Lachs mit Brokkoli und Spinat serviert wird, auch wenn die Küche nach 22 Uhr eigentlich geschlossen wäre, versteht sich von selbst.