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Psychiatrische Therapien Verschwörungserzählung auf der Traumastation Littenheid

Auf der Traumatherapiestation der Klinik Littenheid hat eine Verschwörungserzählung Einzug gehalten. Das zeigen Recherchen von «rec.»

«Ich hatte wegen dieser Therapie zehn Jahre lang keinen Kontakt zu meiner Familie», erzählt Patrizia. Vor zehn Jahren kam sie auf die Traumatherapiestation der renommierten Privatklinik Clienia Littenheid im Thurgau. «Es hat dann immer geheissen: Es ist schwierig, die Täterkontakte abzubrechen und es sei toll, dass ich das geschafft habe.»

Recherchen des SRF-Online Formats «rec.» deckten im Dezember 2021 auf: In der Schweiz gibt es ein ganzes Netzwerk, das die Verschwörungserzählung «Rituelle Gewalt/Mind Control» oder Teile davon glaubt. Darunter auch ein Oberarzt der Klinik Littenheid. Ende März gab die Klinik bekannt: «Wir haben uns entschieden, das Arbeitsverhältnis aufzulösen.»

Nun zeigen Recherchen von «rec.»: Das Problem ist grösser als bisher bekannt. Die Verschwörungserzählung «Rituelle Gewalt/Mind Control» diente und dient auf der Traumastation offenbar als Hintergrund bei gewissen Therapien. Die Verschwörungserzählung besagt, dass Täter Menschen durch schreckliche Gewalt in verschiedene Persönlichkeitsanteile spalten, um dann «Anteile» gezielt zu programmieren, sie zu kontrollieren und zu steuern.

«Da gibt es keinerlei Belege dafür»

Frank Urbaniok, renommierter forensischer Psychiater, sagt zu dieser Erzählung: «Keine Frage: Es gibt schwerste, grausamste Formen von sexuellen Übergriffen und sexuellem Missbrauch. Was es nach jetzigem Kenntnisstand nicht gibt, sind organisierte Zirkel, die im Hintergrund eine grosse satanistische Unterwelt organisieren, in der dann Kinder missbraucht und programmiert werden. Das gibt es nicht, da gibt es keinerlei Belege dafür.»

Zur angeblich gezielten Programmierung von «Anteilen» führt Urbaniok aus: «Selbstverständlich können Opfer manipuliert werden. Aber sie können nicht von Tätern psychochirurgisch programmiert und damit wie ferngesteuert werden.» Das sei eine Annahme, die «aus diesem verschwörungstheoretischen Narrativ stammt».

Austrittsbericht spricht von «Täterloyalen Persönlichkeitsanteilen»

Patrizia erinnerte sich plötzlich an Stromfolterungen und andere Grausamkeiten. In ihrem Austrittsbericht der Klinik Littenheid ist von «Persönlichkeitsanteilen» die Rede, die auf eine «Programmierung» hinwiesen. Die Anamnese sei unter Berücksichtigung «täterloyaler und/oder täteridentifizierter Persönlichkeitsanteile» erfolgt. Heute sagt sie: «Jetzt weiss ich, das ist alles Humbug. Das habe ich mir im Wechselspiel mit dem Therapeuten eingeredet. Das ist nie passiert.»

Eine Mutter, deren Tochter vor zehn Jahren in Littenheid therapiert wurde, sagt, auch ihre Tochter habe sich in Littenheid in diesem Verschwörungskonstrukt verfangen. Als sie ihre Tochter dort besuchen wollte, sei sie abgewiesen worden: «Es hat geheissen, wenn Sie die Mutter sind, dann sind Sie potenzieller Täter.»

Pflegerin: «Als unhinterfragbare Realität angewendet»

Doch nicht nur vor zehn Jahren, auch heute scheint die Verschwörungserzählung auf der Traumastation Littenheid virulent. Eine Person erzählt «rec.», ihre Freundin sei kürzlich dort in Behandlung gewesen und glaube jetzt an die Verschwörungserzählung. 

Und eine Pflegerin, die aktuell dort arbeitet, sagt gegenüber «rec.», man glaube auf der Station an die Verschwörungserzählung. Sie schreibt: «Als Fachpflegerin bin ich sehr beunruhigt. Die These, dass okkulte Gruppen durch äussert gewalttätige Techniken Menschen programmieren und kontrollieren können, ist katastrophal und widerspricht den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Dennoch und ohne jeden Beleg werden spekulative Konstrukte als unhinterfragbare Realität präsentiert und in der Praxis angewendet.»

Psychische Schäden durch irrationale Therapie-Inhalte drohen

«rec.» legt Frank Urbaniok diverse Fälle mit Bezug zur Traumastation Littenheid vor. Urbaniok: «Man muss zur Klinik Littenheid sagen: Da gibt es hervorragende Therapeuten, die sehr gute Arbeit leisten.» Aber: «Es gibt hier doch sehr viele Belege, dass offensichtlich auf den Traumstationen ein verschwörungstheoretisches Narrativ Einzug in die Therapien gehalten hat. Das ist immer etwas, was unprofessionell ist und was zu psychischen Schäden bei Patienten führen kann, weil entweder solche irrationalen Inhalte erst erzeugt – oder verstärkt und chronifiziert werden.»

Die Klinik Littenheid schreibt auf Anfrage von «rec.»: «Sie werden bestimmt verstehen, dass wir Ihre Fragen aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht nicht beantworten können.» Und: «Die Thematik nehmen wir auch bei uns sehr ernst und haben aufgrund des Vorwurfs gegen einen Oberarzt umgehend eine Visitation eingeleitet. Dafür haben wir zwei renommierte und international anerkannte Experten beauftragt. Im uns vorliegenden Visitationsbericht schneidet die Clienia Littenheid in sämtlichen Punkten sehr gut ab. Es wird unter anderem festgehalten, dass wir unsere Behandlungskonzepte fachkundig umsetzen und über ein erfahrenes Team für komplex traumatisierte Patienten verfügen.»

SRF 4 News, Regionaljournal Bern, 17.05.2022, 7:30 Uhr

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