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«Rituelle Gewalt/Mind Control» An Schweizer Kliniken wird mit Verschwörungstheorie therapiert

Laut einer Verschwörungserzählung werden Menschen von Tätern mittels ritueller Gewalt programmiert und gesteuert. Nun zeigen SRF-Recherchen: In der Schweiz wird vor dem Hintergrund dieser Erzählung therapiert.

Recherchen des SRF-Online Formats «rec.» deckten im Dezember 2021 auf: In der Schweiz gibt es ein Netzwerk, das an die Verschwörungserzählung «Rituelle Gewalt/Mind Control» glaubt. Nun zeigen neue Recherchen von «rec.» und dem «Regionaljournal Bern»: Die Erzählung dient offenbar in renommierten Schweizer Kliniken als Hintergrund für Therapien.

Die Verschwörungserzählung «Rituelle Gewalt/Mind Control» besagt, dass Täter Menschen durch schreckliche Gewalt in verschiedene Persönlichkeitsanteile spalten, um dann «Anteile» gezielt für Missbrauch zu «programmieren». Aus dieser These wurde laut Sekten-Experten eine Therapieform für psychisch instabile Menschen entwickelt, die auf vielen Spekulationen basiere. Im Zusammenspiel mit ihren Therapeutinnen und Therapeuten führen Patientinnen und Patienten ihre psychische Erkrankung dann auf vermeintlichen satanistischen Missbrauch zurück.

«Satanic Panic»

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Unter dem Begriff «Satanic Panic» tauchte der Glaube an satanistische Gewaltrituale bereits in den 1980er-Jahren in den USA auf.

Diese Verschwörungstheorie verbreitete sich, weil plötzlich viele Betroffene erzählten, sich daran erinnern zu können, von satanistischen Täterkreisen missbraucht worden zu sein.

Solche Erinnerungen kamen zumeist im Zuge von Trauma-Erinnerungstherapien zum Vorschein. Die Täter seien angeblich in geheimen satanistischen Zirkeln verbunden, würden ihre Opfer schwängern, die Neugeborenen auf einem Altar töten und essen.

Beweise für solche Zirkel und Rituale konnten nie erbracht werden. Die Anhänger dieses Glaubens behaupten, dass Beweise fehlten, weil die Opfer hypnotisch programmiert worden seien und deshalb nicht in der Lage waren, vor Gericht über die Taten auszusagen. Zudem seien die Strafverfolgungsbehörden in diese satanistischen Netzwerke eingebunden und hätten die Aufdeckung dieser Taten verhindert.

Frank Urbaniok, renommierter forensischer Psychiater, sagt: «Keine Frage: Es gibt schwerste, grausamste Formen von sexuellen Übergriffen und sexuellem Missbrauch. Was es nach jetzigem Kenntnisstand nicht gibt, sind organisierte Zirkel, die im Hintergrund eine satanistische Unterwelt organisieren, in der dann Kinder missbraucht und programmiert werden. Das gibt es nicht, da gibt es keinerlei Belege dafür.»

Berner und Thurgauer Kliniken betroffen

In der Schweiz wird nicht nur von frei praktizierenden Psychiaterinnen und Psychiatern vor dem Hintergrund dieser Erzählung gearbeitet. Die Recherchen des «Regionaljournals Bern» und «rec.» decken auf: Die Theorie hat auch an mehreren renommierten Kliniken Einzug gehalten und wird in der Therapie angewandt.

Betroffen sind zwei Berner Kliniken: Zum einen das Psychiatriezentrum Münsingen PZM. Das bestätigen mehrere Mitarbeitende sowie Patientinnen und diverse Akten, die dem Regionaljournal vorliegen. Das PZM schreibt, man untersuche seit März entsprechende Therapien und habe bereits Massnahmen zur Qualitätssicherung eingeleitet. Zum anderen wurde auch in der Privatklinik Meiringen vor diesem Hintergrund therapiert. Die Klinikleitung sagt gegenüber SRF, sie habe das Problem erkannt und gehandelt. Seit zwei Jahren würden keine solchen Behandlungen mehr durchgeführt.

Die Recherchen von «rec.» zeigen: Auch auf der Traumatherapie-Station der renommierten Klinik Clienia Littenheid (TG) hat die Verschwörungserzählung Einzug gehalten. Mehrere Quellen bestätigen dies gegenüber «rec.» unabhängig voneinander.

Die Klinik Littenheid schreibt in einer Stellungnahme, man habe «aufgrund des Vorwurfs gegen einen Oberarzt umgehend eine Visitation eingeleitet. Dafür haben wir zwei renommierte und international anerkannte Experten beauftragt. Im uns vorliegenden Visitationsbericht schneidet die Clienia Littenheid in sämtlichen Punkten sehr gut ab.»

Im Kanton Thurgau ist im Grossen Rat eine Anfrage dazu pendent. Die Thurgauer Staatskanzlei schreibt SRF: «Diese wird demnächst beantwortet.»

«Hier versagt das psychiatrische Versorgungssystem»

Der Präsident der Stiftung Pro Mente, Präsident Thomas Ihde sagt: «Hier versagt das psychiatrische Versorgungssystem.» Nun seien die «Fachgesellschaften enorm gefordert, dass sie dieses Thema jetzt sehr proaktiv angehen». Und: Die Therapeutinnen und Therapeuten würden ihren Patientinnen helfen wollen, «sie sind aber felsenfest überzeugt und geraten in einen Aktionismus». Denn für sie sei es keine Verschwörungstheorie, sondern eine Verschwörungsgewissheit.

SRF 4 News, Regionaljournal Bern, 17.05.2022, 7:30 Uhr

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