«Wenn man in einer Flüchtlingsfamilie aufwächst, begegnet man automatisch viel Schmerz. Man sieht Verwandte, die am Telefon Abschied nehmen ...» An dieser Stelle bricht Arya Amipas (31) Stimme, er kämpft mit den Tränen.
Erinnerungen an seine Familie in Tibet schmerzen. Besonders geblieben ist ihm ein Moment, als er mit zwölf Jahren zum ersten und letzten Mal in Tibet war: «Als meine Tante zur Begrüssung meine Hand nahm, war sie ganz nass von ihren Tränen.»
Die Aussicht, wohl nie wieder in seine tibetische Heimat zurückkehren zu können und möglicherweise von einigen Verwandten nie mehr zu hören, lastet schwer auf ihm. Jede Verbindung zu ihm könne für die Familie in Tibet gefährlich werden. «Im Alltag spricht man nicht über solche Dinge. Eigentlich müsste man das aufarbeiten, aber dazu kommt man einfach nie», sagt er.
Arya ist Jurist und Co-Präsident des Vereins Tibeter Jugend in Europa. Fast seine ganze Freizeit widmet er dem Erhalt der tibetischen Kultur. An manchen Tagen hetzt er von einem Anlass zum nächsten, so wie an jenem Sonntag, als er nach einem Volleyballturnier der tibetischen Community noch an einem Fundraising-Event einen Vortrag hielt. Dabei spricht Arya eigentlich nicht gerne vor Menschen.
Auf dem Radar von China?
Sein Engagement bleibt nicht ohne Folgen. «Ich bin überzeugt, dass Arya überwacht wird, weil er in der Öffentlichkeit auftritt und sich klar gegen China äussert», sagt seine Freundin Lhazen Chhiring. Ihre Sorge ist nicht unbegründet: Ein Bericht des Bundesrates bestätigt, dass China mit grosser Wahrscheinlichkeit Druck auf Exil-Tibeterinnen und -Tibeter in der Schweiz ausübt.
Die ständige Möglichkeit, überwacht zu werden, sei permanent in seinem Hinterkopf, selbst bei unpolitischen Anlässen wie dem Volleyballturnier, sagt Arya. Wahrnehmbar werde die Überwachung etwa daran, dass Menschen sich scheuen, mit ihm ein Foto zu machen, aus Angst, dadurch mit ihm in Verbindung gebracht zu werden. Zudem erhalte er immer wieder Spam-Mails und anonyme Anrufe. Auch die Website für ein Projekt in Indien wurde gehackt. Plötzlich tauchten fremde Codes und Zeichen auf. «Jemand hat keine Freude daran, dass wir dem Dalai Lama unsere Dankbarkeit zeigen möchten», mutmasst er.
Doch davon lässt sich Arya nicht einschüchtern. Für ihn und Lhazen ist politisches Engagement selbstverständlich, anders als für viele ihrer Freundinnen und Freunde ohne tibetischen Hintergrund. «Ich musste schon als Baby an Demonstrationen teilnehmen», erinnert sich Lhazen und Arya ergänzt: «Jeder Tibeter wird irgendwie als Aktivist geboren.»
Das unterscheidet ihre Lebensrealität auch von jener vieler anderer junger Menschen mit Migrationsgeschichte. Während Freunde aus Italien oder Albanien in den Ferien ihre Verwandten besuchen können, bleibe ihnen diese Möglichkeit verwehrt, erzählt Arya. Umso stärker fühlen sich beide verantwortlich, ihre Sprache, ihre Traditionen und ihr kulturelles Erbe lebendig zu halten.
Dazu gehört auch der Versuch, miteinander Tibetisch zu sprechen, was ihnen nicht immer leichtfällt. Beide erzählen, dass ihr Wortschatz im Schweizerdeutschen deutlich grösser sei und es deshalb Disziplin brauche, die Muttersprache im Alltag bewusst zu pflegen. «Weil man in diesem Moment der anderen Person die Inhalte und Gefühle genau so übermitteln möchte, wie man sie meint», erklärt Lhazen. Für sie ist das aber auch eine Form des Aktivismus.
Das Glarnerland ist ein Mini-Tibet.
Arya ist überzeugt, dass seine Eltern das Fundament für sein Engagement gelegt haben, insbesondere durch die Förderung von Sprache, Kultur und der Tibeterschule. Dies war auch ein Grund, warum sie nach Glarus gingen. «Das Glarnerland ist ein Mini-Lhasa, ein Mini-Tibet – auch in den Bergen und idyllisch gelegen», erzählt seine Mutter Soyang Amipa.
Sie erinnert sich, dass Arya in seiner Teenagerzeit mehr Interesse an Rap-Musik hatte als an tibetischer Kultur. «Plötzlich war es, als hätte man einen Schalter umgelegt und dann ist dein Patriotismus ausgebrochen, was uns sehr gefreut hat.» Dass Arya während seines Studiums einen Tibeter kennengelernt habe, der früher für die Exilregierung tätig war, habe sein Interesse zusätzlich geweckt, ergänzt sein Vater Tendhon Amipa.
Die Familie sitzt zu dritt auf dem Sofa und blättert durch das Fotoalbum ihrer Reise nach Tibet 2006. Im Vorfeld der Olympischen Spiele in China vermutete Aryas Vater, dass das Land sich vorsichtiger verhalte, weil die Weltöffentlichkeit hinschaue. Sie gründeten eine fingierte Reisegruppe, mit der Absicht, so eher ein Visum zu erhalten.
Es war, wie in ein fremdes Land zu reisen
Auch für die Eltern, die selbst im indischen Exil geboren wurden, war es die erste Reise in das für sie heilige Land. «Einerseits ist ein Traum wahr geworden, andererseits war es wie in ein fremdes Land zu reisen», erinnert sich der Vater. Zwei Wochen lang lernten sie fast täglich neue Menschen kennen. «Ich kann mich erinnern, dass du gesagt hast, du hättest noch nie so stressige Ferien erlebt», sagt Aryas Mutter zu ihm.
Die Familie versuchte, möglichst viele Fotos zu machen, als Zeugnisse von Begegnungen, die bis heute einzigartig geblieben sind. Denn seither hatten sie keinen Kontakt mehr zu den Verwandten. «Man wird in der eigenen Freiheit eingeschränkt. Es ist ja Familie und trotzdem hat man keine Möglichkeit, eine Beziehung aufzubauen», sagt Arya.
Beziehung an zweiter Stelle
Auch in seiner Beziehung mit Lhazen muss Arya Zugeständnisse machen. Nicht direkt wegen der chinesischen Repression, sondern wegen des Zeitaufwands, den sein Aktivismus mit sich bringt. «Seit Arya aktiv ist, hat der Aktivismus immer Priorität», erzählt Lhazen. Damals sei ihr nicht bewusst gewesen, was das in ihr auslösen würde, wenn er kaum noch Zeit hatte, oft gestresst war und ihre Zweisamkeit darunter litt. Doch sie habe gelernt, damit umzugehen: «Mir war immer klar, dass das, was er tut, dem grösseren Ganzen dient.»
Ich kann wahrscheinlich nie nach Tibet gehen.
Für Arya wiederum steht fest, dass sein Engagement ohne ihre Unterstützung nicht möglich wäre. Doch auch für Lhazen bleibt ihr Einsatz nicht ohne Folgen. «Dadurch, dass ich in dieser Reportage mitmache, kann ich wahrscheinlich nie nach Tibet gehen», sagt sie, ihr kommen die Tränen.
Dass beide tibetische Wurzeln haben, erleichterte vieles. «Ich habe das Gefühl, wenn jemand nicht denselben Background hätte, wäre es schwierig, dieses Mass an Verständnis in einer Beziehung aufzubringen», meint Arya. Von Beginn an verband sie das Tibetisch-Sein. Er erinnert sich an einen Moment aus ihrer Kennenlernphase: Lhazen war aus Versehen auf eine Schnecke getreten und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. «Da wurde mir klar, wie stark du den Wert von ‹Nyingjey› in dir trägst, dieses Mitgefühl für alle Lebewesen», sagt er zu ihr. «Wirklich? Das weiss ich gar nicht mehr», antwortet Lhazen und lacht.
Du siehst, wie deine Familie leidet, und kannst nichts tun.
Schon als Jugendlicher hat Arya unter der Situation der Tibeterinnen und Tibeter gelitten. «Du siehst, wie deine Familie leidet, die Menschen, die dir am nächsten stehen, und du kannst nichts tun», sagt er. Aus dieser Ohnmacht sei auch Wut entstanden: auf China, auf die Umstände, manchmal auch auf sich selbst. Eine Wut, die ihn zerfressen hätte, hätte er sie nicht durch sein Engagement für die tibetische Kultur kanalisieren können. «Es hilft zu wissen, dass ich wenigstens etwas machen kann, auch wenn es nur im kleinen Rahmen ist.»