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Wenn das eigene Kind stirbt «Ihre Seele ist hier» – wie Eltern mit Kindsverlust leben

Als Ophelia stirbt, bleibt für Nathalie und Lukas die Welt stehen. Inmitten von Schmerz und Trauer finden sie Halt in Fotos, Musik und einem zweiten Kind. Sie lernen, das Leben wieder zuzulassen – ohne zu vergessen.

Kleine, rosafarbene Schuhe mit Klettverschluss – sie stehen noch immer an ihrem Platz, ordentlich nebeneinandergestellt, als hätte Ophelia sie gerade erst abgestreift. Für ihre Eltern, Nathalie Hofer und Lukas Bissegger, sind die Schuhe ein Zeugnis dafür, dass Ophelia da war. Dass sie gelacht, gespielt, gelebt hat. Und dass sie – auf ihre eigene, stille Weise – noch immer da ist.

«Wir haben nie etwas weggeräumt oder bewusst versteckt. Und schon gar nicht weggeschmissen. Alles ist noch an seinem Platz», sagt Lukas Bissegger über die Dinge seiner Tochter, die nur knapp zwei Jahre alt wurde. Die Gegenstände, die Ophelia gehörten, sind geblieben, als Teil des Familienalltags.

«Wir sagen immer: Ophelia ist überall im Haus präsent. Wir sind keine gläubigen Menschen», betont der Key-Account-Manager. «Aber wir glauben, dass ihre Seele hier daheim ist.» Ophelias Anwesenheit zeigt sich immer wieder. Zum Beispiel in einem zerknitterten Schokopapier, welches die Mutter in ihrer Jackentasche findet. Es stammt aus einer Zeit, in der Ophelia durch die Chemotherapie kaum noch Appetit hatte. Lediglich Süsses schmeckte ihr noch. «Ich habe mich so gefreut, als ich es in der Hand hielt», erzählt Nathalie Hofer. «Und gleichzeitig habe ich Angst, dieses kleine Stück Erinnerung zu verlieren.»

Ophelias Urne steht zu Hause

Im Alter von zehn Monaten wurde bei Ophelia ein hoch aggressiver Hirntumor diagnostiziert. Ein Jahr lang kämpfte die Familie gegen die Krankheit, begleitet von Hoffnung und Rückschlägen. Im März 2023 starb Ophelia.

«Bevor die Bestatterin Ophelias Körper mitnahm, haben wir uns mit einem Ritual von ihr verabschiedet», erzählt Nathalie Hofer. Am nächsten Tag kehrte die Bestatterin zurück, in den Händen ein Körbchen. Darin: die Urne. «So bringt sie dir deine Tochter zurück», sagt die Mutter leise. Für den Verstand sei das kaum fassbar. Bis heute fällt es ihr schwer, das Geschehene wirklich zu begreifen.

Die Urne hat ihren Platz im oberen Stockwerk gefunden – unter der Dachschräge eines hellen, freundlichen Zimmers. Der kleine Korb ruht auf einem weichen Schafsfell, flankiert von einem Stoffhasen und einem aus Wolle gehäkelten Schaf-Stofftier. Früher hätte sich Nathalie Hofer nicht vorstellen können, eine Urne zu Hause zu haben. Der Gedanke daran wirkte befremdlich.

Heute empfindet die Organisationsberaterin es ganz anders. Es fühlt sich richtig an. Natürlich. Und schön. Ihre Tochter ist hier, nicht nur in Gedanken.

Lukas geht nur selten in das Zimmer mit der Urne – doch wenn er es tut, dann ganz bewusst. «Es gibt immer wieder Momente, wo ich innehalten und zurückschauen will – vor allem auf die letzten Stunden.»

Jeder trauert anders

«Schmerz verändert sich mit der Zeit, wird aber nicht weniger.» Lukas Bissegger wirkt reflektiert und zugleich innerlich bewegt. Die Trauer um ihre Tochter Ophelia war eine Zerreissprobe für die Beziehung. Die Eheleute trauerten auf unterschiedliche Weise. In den vier Tagen, in denen Ophelias Körper noch im Haus war, zog sich Nathalie zurück. Sie wollte keine Menschen sehen, kaum sprechen. Sie brauchte Stille, Rückzug, Zeit für sich.

Ihr Mann hingegen stürzte sich in alles, was Ablenkung bot: Er organisierte die Abschiedsfeier, hielt sich beschäftigt, kümmerte sich um alles, was zu tun war. Vielleicht auch, um nicht zu zerbrechen. Und er schrieb: Texte, Melodien, Gedanken. Lieder für Ophelia, die er aufnahm. Musik als Ausdruck seiner Liebe, seiner Trauer, seiner Ohnmacht.

«Ich empfand Lukas' Aktionismus zu diesem Zeitpunkt als irritierend und wunderte mich, was ihn antrieb», sagt Nathalie. Seine Aufforderung, sich an der Organisation zu beteiligen, traf sie und löste ihn ihr Unmut aus. Es brauchte Zeit und gegenseitiges Verständnis, um zu erkennen: Das ist deine Art zu trauern – und das meine.

Empfehlungen für den Umgang mit Trauer und Verlust

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Anteilnahme anbieten

Christine Grossenbacher, Witwerin: «Behutsam auf eine trauernde Person zugehen. Wenn es sein darf und die Situation es zulässt, eine Umarmung. Und einfach vermitteln: Ich bin da für dich!»

Zeitfenster für Trauer planen

Prof. em. Hansjörg Znoj, Psychologe und Trauerforscher: «Ich nehme mir zum Beispiel jeden zweiten oder dritten Abend Zeit, um mich mit mir und meinem Verlust auseinanderzusetzen. Nachher darf ich mich aber auch dafür belohnen – warum nicht mit etwas Süssem und einem Glas Wein?»

Trauer nicht verdrängen 

Oliver Wiser, Witwer: «Meine Erfahrung mit der Trauer ist, dass man sich auf sie einlassen soll – und nicht denken, dass die Trauer irgendwann zu einem Ende kommt. Sie wird immer da sein, aber je mehr man sich mit dem Gedanken befasst und das zulässt, desto stärker hat man dann auch nachher wieder die Energie, sich auf das Leben einzulassen.»

Nachlässe in den Alltag integrieren 

Petra Wicki, verlor ihre Schwester: «Bilder zum Beispiel oder Möbel, auch etwas Schmuck von ihr, haben wir in unserem Haus integriert. Das gibt etwas für das Wohlbefinden und ist eine Erinnerung daran, was gewesen ist. Es kann aber auch manchmal einfach nur schön sein, dass das auch noch da ist.»

Quelle: SRF Puls Kompakt #31

Das Fundament ihrer Beziehung hat gehalten. «Wir haben nicht den Anspruch, die Trauer des Anderen zu verstehen», erklärt Lukas Bissegger. «Aber wir respektieren sie.» Und Nathalie Hofer ergänzt: «Wenn wir als Paar nicht ein gutes Fundament hätten, hätte unsere Beziehung auch zerbrechen können.»

Bleibende Bilder

Überall im Haus erinnern Fotos an Ophelia: lachend, lebensfroh, trotz Krankheit. Besonders wertvoll sind jene Aufnahmen, die in den letzten Tagen ihres Lebens entstanden sind. Die Organisation Herzensbilder ermöglicht Familien mit schwer kranken Angehörigen professionelle Fotos und somit Erinnerungen, die bleiben. Und das kostenlos.

Frau mit Brille steht vor Wand mit Fotos, schaut zur Seite.
Legende: «Man könnte meinen, 3500 Fotos und Videos seien viel. Aber für mich ist es zu wenig», meint Nathalie Hofer und blickt auf die Aufnahmen der Organisation «Herzensbilder». SRF

Die Gründerin Kerstin Birkeland entwickelte die Idee aus einem persönlichen Verlust heraus. Als sie ihren Sohn verlor, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass es kein einziges schönes Bild der Familie gab. Diese Erfahrung wurde zum Anstoss, anderen Trost zu schenken. In Form von Bildern, die erinnern und bewahren sollen.

Ich schämte mich unnötigerweise für meinen Kinderwunsch – und hatte Angst, die Leute könnten denken, wir wollten Ophelia ersetzen.
Autor: Nathalie Hofer Organisationsberaterin und trauernde Mutter

Auch auf dem Handy haben Nathalie Hofer und Lukas Bissegger Erinnerungen gesammelt: rund 3500 Fotos und Videos. «Man könnte meinen, das sei viel», meint Nathalie. «Aber für mich ist es zu wenig. Ich hätte am liebsten zehnmal so viele. Ich schaue mir Ophelias Bilder und Filme immer wieder an.»

Ein weiteres Kind

Kurze Zeit nach Ophelias Diagnose spürte Nathalie Hofer den Wunsch nach einem weiteren Kind. Eine Empfindung, die sie selbst als irritierend beschreibt. «Aber der Wunsch war sehr klar. Und ohne Angst.» Wie sie erzählt, konnte sie sich diesen Impuls selbst kaum erklären; mitten in einer Zeit, die von Sorge, Erschöpfung und der Pflege eines schwer kranken Kindes geprägt war. «Ich habe mich unnötigerweise für den Gedanken geschämt. Ich hatte Angst, dass die Leute denken: Jetzt wollen sie Ophelia ersetzen.»

Bei ihrem Mann war der Gedanke an ein zweites Kind zunächst mit Angst verbunden. «Was, wenn das noch einmal passiert? Schaffen wir das?» Er fürchtete, dass eine Schwangerschaft in einen Moment fallen könnte, der von Abschied geprägt ist. «Ich hatte grosse Angst, dass sich beides überschneidet: das neue Leben und das Sterben von Ophelia.»

Nach Ophelias Tod war für beide klar: Sie wünschen sich ein weiteres Kind. «Ich konnte sehr schnell auch wieder lachen», sagt Nathalie Hofer. «Und ich hatte nie das Gefühl, ich dürfe nicht mehr glücklich sein.» Lukas ergänzt: «Wir wünschen uns vor allem, dass Melody gesund bleiben darf. Wir haben gelernt, dass Gesundheit alles ist.»

Heute erfüllt Melody das Haus mit Leben. Ihre Stimme, ihr Lachen, der Klang ihrer Schritte füllen die Räume. Sie kam rund ein Jahr nach Ophelias Tod zur Welt. Eine emotionale Gratwanderung, die die Familie meistert: der Wunsch, offen für neues Leben zu sein, ohne die Vergangenheit dabei zu verdecken. «Es ist ein neues Kapitel», sagt Nathalie Hofer. «Aber das alte bleibt aufgeschlagen. Beide gehören zu unserer Geschichte.»

Sendehinweis

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Donat Hofer lehnt sich aus dem Fenster eines gelben Oldtimer Autos
Legende: Reporter Donat Hofer unterwegs im Oldtimer. SRF

«Reporter Spezial – Auf Achse» ist eine achtteilige Serie, in der Reporter Donat Hofer in einem Oldtimer durch die Schweiz reist, um die alltäglichen Leben der Menschen zu erkunden. In jeder Folge taucht er tief in verschiedene Themen ein, die die Schweizer Bevölkerung bewegen.

Die Serie widmet sich Schwerpunkten angefangen von Angelverbot, Gaming, Jodeln, Kindsverlust über Liebe im Alter, Mobbing, Patchwork-Familie, Pubertät bis hin zu Swingen, Stau, Schafen und Wrestling.

Ab August sind alle Folgen auf Play SRF im Stream verfügbar.

SRF1, Reporter Spezial: Donat auf Achse, 10.8.2025, 20:35 Uhr​; sten

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