Der ESC sei «eines der letzten Rituale der Massenkultur», findet Kulturjournalist Jens Balzer. Was aber verrät uns der Event über Zeitgeist, Politik, die Idee von Europa? Ein Gespräch als Gegenwartsdiagnose.
SRF: Ist das gute Musik, die da am ESC erklingt? Oder vor allem eine gute Show samt Reizüberflutung?
Jens Balzer: Na ja. Bei Popmusik geht es eigentlich nie immer nur um Musik, sondern um das Multimediale, um das Zusammenspiel von Inszenierung, Ästhetik, Visuellem und Musik. Diese scheinbar niveaulose Musik zielt auf die grosse Masse. Wenn man sich darauf einlässt, dann kann man schon eine Menge Dinge sehen, die man erst mal nicht versteht und bei denen man sich fragt: Ist das jetzt furchtbar? Oder lustig? Oder gar beides gleichzeitig?
Ist der ESC eine grosse Kommerzveranstaltung oder doch ein progressives Event gegen Konformismus?
Wir leben nun mal im Kapitalismus, und das eine lässt sich vom anderen ohnehin nicht trennen. Nancy Fraser, die amerikanische Philosophin, hat das mal «progressiven Neoliberalismus» genannt. Gewissermassen ist die Identitätspolitik nur noch Ornament für einen neoliberalen Kapitalismus. Unterhalb dessen breitet er sich umso ungezügelter aus: ähnlich wie bei Multimediakonzernen, die mit ausbeuterischen Geschäftspraktiken arbeiten und gleichzeitig auf ihren Webseiten «Diversity» und «Equality» predigen.
Es gab und gibt Boykott-Aufrufe gegen Länder. Texte, die umgeschrieben werden mussten. Oder gar Buhrufe bei Auftritten wie jenem der israelischen Sängerin 2024: Warum ist der ESC so politisch geworden?
Ich glaube, der ESC war schon immer politisch, also seit seiner Gründung 1956. Einer der deutschen Beiträge war damals «Im Wartesaal zum grossen Glück» von Walter Andreas Schwarz, einem KZ-Überlebenden; ein Lied über die Sehnsucht des Überlebenden, von der Nachkriegsgesellschaft anerkannt zu werden.
Es entstand ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl, wie es den europäischen Regierungen nie gelungen ist.
Damals war es tatsächlich das erste Ereignis, an dem in verschiedenen europäischen Ländern über Musik abgestimmt wurde. Und mit dem sich ein die Ländergrenzen überschreitendes Publikum gemeinsam eine Show ansehen konnte. Es war politisch, weil es so etwas wie die europäische Vereinigung vorweggenommen hat. Es entstand ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl, wie es – seien wir ehrlich – den europäischen Regierungen nie gelungen ist.
Bis heute?
Ja, letztes Jahr hat Nemo gewonnen, dieses Jahr gibt es auch wieder viele queere Beiträge. Es geht schon um etwas spezifisch Freiheitlich-Europäisches, was jetzt offensichtlich wieder verteidigt werden muss.
Für Putin oder Orban ist der ESC der Endgegner, ein Sinnbild für Dekadenz.
Nicht umsonst sprechen Putin oder Orban immer von «Gayropa». Dieses Europa muss verteidigt werden gegen all jene, die alle Arten der sexuellen Selbstbestimmung ablehnen. Für Leute wie Putin oder Orban ist der ESC der Endgegner, könnte man fast schon sagen, ein Sinnbild für Dekadenz. Putin möchte ja jetzt diese Gegenveranstaltung aus der damaligen Sowjetunion – die «Intervision» – wieder ins Leben rufen. Garantiert «perversionsfrei»!
Sie sagen, der ESC sei auch ein «Safe Space» – mit Ritualen in einer Welt der ständigen Überforderung?
Ja. Der Abend dauert drei Stunden, und am Ende bestimmen die Jury und die Zuschauerstimmen, wer gewinnt. Dann ist es vorbei.
Bei Tiktok gibt es niemanden, der sagt, ‹so, jetzt, nach drei Stunden hast du alles gesehen›, beim ESC schon.
Nicht wie diese ständige Überforderung beim Internetsurfen, dieses endlose Scrolling bei Tiktok, wo es ja überhaupt kein Ende mehr gibt, wo man sich in diesem «Rabbit Hole» komplett verliert. Bei Tiktok gibt es niemanden, der sagt, ‹so, jetzt, nach drei Stunden hast du alles gesehen›. Beim ESC schon.
Das Gespräch führte Yves Bossart.