Daniel Frey ist ein erfahrener Viszeral-Chirurg, er hat über 10'000 Stunden im Operationssaal verbracht. Eine Schilddrüsen-Entfernung etwa hat er rund 700 Mal gemacht. «Nach etwa 100 selbst operierten Eingriffen kann man sagen: Jetzt sitzt es», so Frey.
Er selbst hat noch nach alter Schule gelernt: 14- bis 16-Stunden Tage waren die Regel; er konnte viel operieren. Das sei heute kaum mehr möglich, nicht nur wegen des Arbeitsgesetzes, das so lange Arbeitstage verbietet.
Zu viel administrative Arbeit
Für junge angehende Chirurginnen und Chirurgen gilt: Auch sie arbeiten immer noch viel und am Limit, doch zum Operieren kommen sie zu wenig. Meist sind sie mit administrativen Arbeiten beschäftigt oder mit Strukturdiensten, im Operationssaal stehen sie jedoch kaum.
«Wir werden für Schreibarbeit angestellt, nicht fürs Operieren», sagt die 31-jährige Assistenzärztin Delia Kläger. Sie befürchtet, dass viele Kollegen erst als Facharzt/Fachärztin Chirurgie die notwendige Routine beim Operieren erwerben – «eine gefährliche Entwicklung».
Den OP-Katalog zu reduzieren, ist nicht die Lösung.
Delia Kläger arbeitet am Kantonsspital Graubünden in Chur, das den Ruf hat, die Jungen zu fördern. Doch auch hier stellt die stellvertretende Chefärztin Rebecca Kraus fest: Es reicht noch nicht, sie müssten noch viel mehr operieren können.
Es gibt zu wenig Operationen
Dass die angehenden Chirurginnen und Chirurgen vor allem mit Schreibarbeit beschäftigt sind, ist das eine. Das andere: Für die vielen Assistenzärztinnen und -ärzte, die auf den chirurgischen Abteilungen arbeiten, hat es zu wenig Operationen.
Kathrin W. ist im 4. Jahr ihrer Weiterbildung zur Chirurgin, in zwei Jahren sollte sie sich anmelden können für die Facharztprüfung. Auch ihre Tage sind geprägt von Administration und Strukturdiensten. «Wir laufen Gefahr, eine Generation auszubilden, die zwar den Stationsdienst beherrscht, aber nicht operieren kann», warnt sie.
Um den Facharzttitel «Chirurgin/Chirurg» zu erlangen, muss sie 510 Eingriffe nachweisen können, die sie unter Anleitung oder selbständig gemacht hat. Das sind viele Eingriffe in zu kurzer Zeit. Die Folge: geschönte Operationskataloge. «Den OP-Katalog zu reduzieren, ist nicht die Lösung», so auch Delia Kläger. Assistenzärztinnen berichten, dass sie teils als Operateurinnen eingetragen werden, obwohl sie nur kurz assistiert haben. «Auf dem Papier können wir es – praktisch oft nicht», kritisiert Kathrin W.
«Noch nie den Bauch aufgeschnitten»
Assistenzärztin Kathrin W. erinnert sich, wie ein junger Oberarzt mit frisch erworbenem Facharzttitel eine Darmverdrehung operieren musste – ein Eingriff, den er noch nie durchgeführt hatte: «Er hätte ihm den Bauch aufschneiden müssen, aber das hatte er noch nie gemacht». Der Chefarzt weigerte sich zu kommen und ihm zu helfen, die Operation zog sich acht Stunden hin, bis ein anderer Oberarzt kam und ihm half.
Viszeral-Chirurg Daniel Frey bestätigt: Früher mussten angehende Chirurginnen 800 Eingriffe absolvieren, heute sind es nur noch 510. «Man kann heute den Facharzttitel erhalten, ohne das gesamte Spektrum wirklich abdecken zu können», so Frey.
Der Ärzteverband FMH nimmt das Problem ernst und prüft Massnahmen: «Das ist eine Gefahr im Moment in der Weiterbildung einiger chirurgischer Disziplinen und das gilt es zu korrigieren», sagt Präsidentin Yvonne Gilli (vollständiges Interview unten).