Diese Herbstnacht im Jahr 2021 vergisst Silvana Rothenberger wohl nie. Frühmorgens wecken sie merkwürdige Geräusche aus dem Treppenhaus. Als sie die Wohnungstür öffnet, schiessen ihr Flammen entgegen. Sofort weckt sie ihre zwei Kinder und ihren Partner. Weil sie in der Wohnung gefangen sind, alarmieren sie die Feuerwehr und flüchten auf den Balkon.
Kein Personenschaden, aber grosser Sachschaden
Dort folgt der nächste Schock: Auf dem Nachbar-Balkon sehen sie ihre Nachbarin, während die Flammen aus deren Wohnung schiessen. Die Frau muss sich über die Dachrinne in acht Meter n Höhe zur Familie hinüberretten. Von dort werden alle fünf Personen von der Feuerwehr per Drehleiter gerettet.
In der Wohnung der Familie ist nach dem Brand alles verrusst. Eine professionelle Firma putzt die Wohnung tagelang. Dazu kommt ein grosser Schaden im Estrich: Hitze und Flammen zerstören Camping- und Ski-Ausrüstung, Kleider, Schuhe, Elektronik und andere Sachen. Silvana Rothenberger schätzt den Gesamtschaden über 13'000 Franken.
Der Schock: Haftpflichtversicherung lehnt Kostenübernahme ab
Damals hat die Familie unglücklicherweise keine Hausratversicherung. «Doch für mich war klar, dass die Haftpflichtversicherung der Nachbarin den Schaden deckt. Sie hat den Brand ja verursacht.»
Doch es kommt anders: Die Haftpflichtversicherung der Nachbarin – die Generali Versicherungen – lehnt eine Kostenübernahme ab. Es liege keine Haftpflicht vor, weil die Nachbarin bei der Brandlegung «nicht urteilsfähig» gewesen sei.
Sie beruft sich dabei auf einen Bericht der zuständigen Staatsanwaltschaft. Dieser hält fest, dass die Frau in der betreffenden Nacht unter einer «akuten Psychose» litt. Deshalb sei strafrechtlich von einer Schuldunfähigkeit auszugehen.
Klausel sieht Haftung bei Urteilsunfähigkeit vor
Diese Haltung kann Silvana Rothenberger nicht verstehen. Denn eine Klausel in den allgemeinen Versicherungsbedingungen der Generali lautet: «Versichert sind Schäden, die durch in ihrem Haushalt wohnende, urteilsunfähige Kinder und Erwachsene verursacht werden.»
Eigentlich ein klarer Fall – müsste man meinen. Doch auch gegenüber «Kassensturz» erklärt Generali, diese Klausel beziehe sich nur auf eine «Versicherungsnehmerin als Aufsichtsperson». Und weiter: «Die Deckung gilt jedoch nur für Personen im gleichen Haushalt unserer Versicherungsnehmerin. Die Versicherungsnehmerin selbst kann nicht die urteilsunfähige Person sein, da sie somit nicht die Aufsichtsperson sein könnte.» Mit anderen Worten: Generali lehnt eine Haftung ab.
Dilemma: Familie müsste Nachbarin einklagen
Der Haftpflicht-Experten Frédéric Krauskopf, Professor für Privatrecht an der Universität Bern sagt, der Entscheid der Generali sei übereilt und unbedacht: «Ob die Frau haftpflichtrechtlich zum Zeitpunkt der Brandverursachung tatsächlich urteilsfähig ist oder nicht, müsste ein Gericht entscheiden.»
Doch das bringt die Familie in ein schwieriges Dilemma . Um nicht auf ihrem Schaden sitzen zu bleiben, müsste sie ihre ehemalige Nachbarin einklagen, mit der sie stets ein gutes Verhältnis hatten. «Ihr jetzt das Leben schwer zu machen, ist das Letzte, was wir wollen», sagt Silvana Rothenberger.