Beim Autofahren ist wohl den wenigsten bewusst, dass sie permanent Mikroplastik verursachen. Doch mit jedem gefahrenen Kilometer lösen sich kleinste Gummi-Partikel von den Pneus und gelangen in die Umwelt – und irgendwann auf dem Teller.
Dies zeigen verschiedene Untersuchungen. Zuletzt wies eine Studie der EPFL Lausanne Spuren von Reifenabrieb in Schweizer Gemüse nach. Und das Problem ist nur schon von der Menge her gigantisch: «Ein Reifen verliert über sein Leben gerechnet über ein Kilogramm Gummi», erklärt Dino de Silvestro, Leiter Fahrzeugtests beim ADAC. Pro abgefahrenem Reifensatz macht das also schon über vier Kilogramm.
In der Schweiz kommen so jährlich bis zu 21'000 Tonnen Reifenabrieb zusammen. Zum Vergleich: Um diese Menge zu transportieren, bräuchte es rund 350 vollbeladene SBB-Güterwagons. Und das gilt nur für die Schweiz: In Europa sind es geschätzte 500'000 Tonnen Reifenabrieb – alles entsorgt in der Natur. Forscher fanden Reifenpartikel inzwischen in entlegensten Orten wie im Eis der Arktis oder auch in der Wüste. Ein Viertel des Mikroplastiks im Meer stammt vom Reifenabrieb.
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Gesundheitsrisiken noch unklar
Was das für Umwelt, Mensch und Tier bedeutet, ist noch lange nicht geklärt. Laut Elisabeth Mayerhofer von der Universität für Bodenkultur Wien laufen an verschiedenen Orten Studien zu den Auswirkungen auf die Umwelt: «Sobald ein Kunststoff einmal hergestellt wurde, ist er da, um zu bleiben. Der verschwindet nicht einfach, der zersetzt sich immer weiter. Er ist dann zwar nicht mehr sichtbar für uns, aber das Problem ist nicht gelöst.»
In Österreich wird viel in diese Forschung investiert. In einer Messstelle an der Donau fischen Wissenschaftler nach Mikroplastik. Erste Messungen zeigen, dass allein durch die Donau rund 20 Tonnen Mikroplastik fliessen. Dies hat Auswirkungen auf kleinste Organismen, welche diese Partikel aufnehmen, sagt Elisabeth Mayerhofer: «Wenn zum Beispiel kleine Krebse Mikroplastik mit Futter verwechseln, dann kann es passieren, dass sie fast nur noch Mikroplastik aufnehmen und daran sterben.»
Doch Mikroplastik macht auch vor dem Menschen nicht halt. «Das, was Sie vom Autoreifen als Abrieb haben, landet irgendwann später wieder auf Ihrem Teller», sagt Thilo Hofmann, Professor für Umweltgeowissenschaften am Institut für Umweltwissenschaften an der Universität Wien. Reifenabrieb auf dem Teller ist nicht nur unappetitlich, sondern womöglich auch gesundheitsgefährdend. Denn in Reifenabrieb stecken auch giftige Chemikalien. Wie etwa die Substanz 6 PPD, ein Ozonschutzmittel für Autoreifen.
Reifenabrieb in jedem dritten Gemüse
Und Hofmanns Aussage bestätigt eine aktuelle Studie der ETH Lausanne im Auftrag des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV. Die Forschenden analysierten Salat und Gemüse auf Spuren von Zusatzstoffen, die typischerweise in der Reifenherstellung verwendet werden.
Untersucht wurden die bei uns am häufigsten konsumierten Gemüse und Salate: je zehn Proben von Kopfsalat, Spinat, Kohl, Karotten, Kartoffeln, Zwiebeln, Kürbissen, Zucchini, Tomaten und Peperoni. Eingekauft bei grossen Einzelhändlern über Biomärkte bis hin zu kleineren Quartierläden.
Gesucht wurde nach elf typischen Bestandteilen von Reifenadditiven, also chemische Zusatzstoffe. Brisant: 31 Prozent der Proben enthielten Spuren solcher Substanzen. Was darauf hindeutet, dass chemische Substanzen aus Reifenabrieb in die Nahrungskette gelangen können, so das BLV. Laut Studienleiter Florian Breider, Leiter des Zentralen Umweltlabors an der EPFL, spielte es keine Rolle, woher das Gemüse stammte. Auch nicht, ob es sich um Bio- oder konventionelle Ware handelte.
Was das für die menschliche Gesundheit bedeutet, ist nicht klar. Denn laut dem BLV sind die Additive «möglicherweise giftig». Das Amt schreibt zur Studie weiter: «Aktuelle toxikologische Daten zeigen zurzeit keine direkten Gesundheitsgefahren an. Allerdings muss noch erforscht werden, ob Substanzen aus Reifenabrieb schädliche Langzeitwirkungen haben können.» Und Florian Breider von der EPFL sagt: «Wir wissen nicht, wie diese Moleküle im menschlichen Körper verstoffwechselt werden, weshalb eine Auseinandersetzung damit nötig ist.» Es braucht also dringend weitere Forschung zum Risiko von Reifenabrieb.
Umweltwissenschaftler Thilo Hofmann von der Universität Wien fordert, dass Chemikalien in Reifen viel strikter reglementiert werden. Damit nicht passiert, wovor Forscherin Verena Pichler eindringlich warnt: Dass Menschen durch Mikroplastik krank werden. Sie forscht am Institut für Pharmazie der Universität Wien an Tumorzellen und sagt, dass der Mensch im Laufe der Zeit unzählige Partikel aufnehme. Und ein Teil der Partikel bleibe im Körper.
«Das grosse Problem beim Mikroplastik ist, dass es eine chronische Exposition ist. Also wir nehmen das über Jahre auf und wissen dann gar nicht genau, was über diesen langen Zeitraum passiert.» Die Expertin fand in ihren Studien erste Hinweise, dass Mikroplastik Krebs begünstigen könnte. Und es komme darauf an, was für Mikroplastik man aufnimmt: «Es macht einen riesengrossen Unterschied, ob ich ein kleines Stück einer Trinkflasche habe oder eben einen Reifenabrieb. Das sind chemisch gesehen komplett unterschiedliche Produkte.»
Und was sagen die Reifen-Hersteller zum Problem und den Risiken von Reifenabrieb? Gegenüber dem ZDF-Magazin Frontal äussert sich der europäische Reifenverband wie folgt: «Die Reifenindustrie verfolgt die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Reifenabrieb und unterstützt daher unabhängige Forschung für ein besseres Verständnis.»
Grenzwerte für Reifenabrieb kommt nicht vor 2028
Eine Taskforce der UNO arbeitet bereits seit längerer Zeit an Grenzwerten für Reifenabrieb, welche die Industrie einhalten müsste – damit Reifen eben weniger Mikroplastik in die Natur abgeben. David Miles vom britischen Verkehrsministerium sagt in einer Dokumentation der ZDF-Sendung Frontal: «Es gibt je nach Reifentyp und Hersteller grosse Unterschiede, was die Menge an Reifenabrieb angeht.»
«Es scheint also möglich zu sein, dass Reifen umweltfreundlicher werden, indem ein internationaler Standard die Abnutzungsrate der Reifen reguliert.» Dies bestätigen auch die Reifentests des deutschen Automobil-Clubs ADAC: Eine Auswertung aus dem Jahr 2022 zeigt, dass Micheline-Reifen im Durchschnitt rund 95 Gramm Reifenabrieb pro 1000 Kilometer generierten. Bei den Marken Bridgestone, Nokian und Pirelli waren es zwischen 131 und 136 Gramm auf 1000 Kilometer, ein grosser Unterschied.
Doch der Prozess um einen verbindlichen Grenzwert für Reifenabrieb kommt nur zäh voran. Die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) hat inzwischen ein international anerkanntes Testverfahren zur Messung des Reifenabriebs verabschiedet. Ein solches ist Voraussetzung für das Bestimmen von Grenzwerten.
Wird das Gesetz ein zahnloser Tiger?
Das Bundesamt für Umwelt schreibt dazu auf Anfrage: «Die Arbeiten zur Festsetzung dieser Grenzwerte laufen derzeit auf Ebene UNECE und werden von der Schweiz unterstützt. Diese Grenzwerte werden dann von der EU in die Euro-7-Vorschriften übernommen. Die Einführung der Grenzwerte für neue Reifentypen erfolgen in der EU ab 2028. Die Schweiz übernimmt diese Normen üblicherweise zeitgleich.»
Wie streng dieser Grenzwert dereinst ausfallen wird, ist noch offen. In der Kommission ist die Reifenindustrie ebenfalls gewichtig vertreten und macht ihren Einfluss geltend. Und offenbar erfolgreich. Ein Teil der Taskforce schlug zunächst eine strenge Variante vor: Ein Grenzwert für alle Autos, egal wie schwer das Fahrzeug ist.
Doch es kam anders: Jetzt soll der Abrieb nach Fahrzeuggewicht geregelt werden: Schwere Autos wie SUV dürften damit mehr Mikroplastik abgeben als Kleinwagen. Gut für die Industrie, schlecht für die Umwelt.