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«Demenz stellt jede Partnerschaft auf die grösste Probe»

Eine Demenzerkrankung ist nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern insbesondere für die Angehörigen eine enorme Belastung. Oft übernehmen sie jahrelang – mit zum Teil fast übermenschlichen Kräften – die Betreuung einer geliebten Person. Die ist zwar physisch präsent, psychisch aber abwesend.

Gerade dieser «uneindeutige Verlust» eines Elternteils oder Lebenspartners ist schwer zu verkraften. In ihrem neuen Buch «demenz.» geht Irene Bopp-Kistler, Geriatrie-Ärztin und leitende Ärztin der Memory-Klinik Waid in Zürich, Fakten, Geschichten, Perspektiven und eben dem Aspekt rund um die Rolle der Angehörigen nach.

SRF: Warum geraten Angehörige von Demenzkranken an ihre Grenzen?

Irene Bopp-Kistler: Viele meinen, dass es die Überforderung und die zeitliche und körperliche Belastung ist. Doch das ist nur die eine Seite: Pauline Boss hat den Begriff des «ambiguous loss» geprägt, des Verlustes, der nicht richtig einzuordnen ist.

Angehörige von Demenzerkrankten erleben diesen unklaren Verlust rund um die Uhr: Das Abschiednehmen von der Persönlichkeit, von der Streitkultur, des gegenseitigen einfühlenden Mitdenkens und Mittragens ist mit Schmerz erfüllt, denn die an Demenz erkrankte Person ist noch vorhanden, aber ein Teil von ihr ist verschwunden, entschwindet jeden Tag ein Stück mehr. Angehörige fühlen sich einsam, hilflos, unsicher, nicht verstanden.

Was sind die Folgen für die Angehörigen?

Irene Bopp-Kistler

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Dr. Irene Bopp-Kistler ist Fachärztin für Innere Medizin mit Spezialisierung auf Geriatrie und leitende Ärztin der Memory-Klinik Waid in Zürich.

Oft kommt es zu Konfliktsituationen, weil die gewohnte Kommunikation mit den Demenzerkrankten nicht mehr möglich ist. Dies führt zur Eskalation und zu Verletzungen, und es kommt zu Missverständnissen, weil häufig Unkenntnis wie Unverständnis die Situation bestimmen.

Angehörige von Demenzerkrankten befinden sich in einem ständigen Wechselbad der Gefühle: Sie fühlen sich stark und schwach zugleich, sie fühlen gleichzeitig Zuneigung und Abneigung, sie trauern und haben gleichzeitig den Wunsch nach Freiheit, nach einem Leben ohne Belastungen. Das führt zu einem Trauerprozess, der nicht mehr aufhört, was in dieser Situation ein normaler Prozess ist.

Viele Angehörige entwickeln aber auch eine innere Stärke (Resilienz), die sie trägt und ihnen Kraft gibt. Damit sind sie fähig, mit vielen herausfordernden Situationen kreativ umzugehen. Dennoch fühlen sie sich immer wieder schwach, hoffnungslos und erschöpft und werden von Schuldgefühlen geplagt.

Was raten Sie den Angehörigen?

Angehörige wollen keine Ratschläge, sondern sie wollen verstanden werden, in ihrer individuell so verschiedenen Situation. Werden Angehörige mit Ratschlägen – ob von Freunden oder Fachleuten – überhäuft, empfinden sie genau diese als Schläge. Man fordert sie auf, für Entlastung zu sorgen, doch wie sollen sie sich Erleichterung von ihrer schweren Aufgabe verschaffen, wenn sie sich nicht verstanden fühlen?

Angehörige wollen keine Ratschläge. Sie wollen verstanden werden.
Autor: Irene Bopp-Kistler

Möglicherweise wird gerade die aufgezwungene Entlastung zur Belastung. Entlastung ist wichtig, doch sie muss individuell definiert werden. Angehörige sind die erfahrensten «Professionellen», durch die Betreuung sammeln sie ein Wissen an, das grösser ist als jedes von Fachleuten. Dennoch bedürfen sie des Schutzes, der Zuwendung und einer Sicht von aussen, die ihren Blick für neue Lösungswege öffnet; für solche Blickrichtungswechsel sind sie dankbar.

Äusserungen wie «Sie sollten, Sie müssen sich helfen lassen» sollten vermieden werden. Es bedarf einer behutsamen Annäherung, um zu erfahren, wie und wann die Angehörigen Schmerz und Belastung erfahren. Für die einen Angehörigen kann es tatsächlich körperliche Erschöpfung und Übermüdung sein, für andere aber das ständige Beisammensein mit dem geliebten Menschen, der nicht mehr der ist, der er war.

Entlastung kann neben rechtzeitiger zeitlicher und pflegerischer Entlastung somit auch bedeuten, dass Fragen angesprochen werden, die belasten, die tabuisiert sind, dass Raum gefunden wird für Themen, über die man bis anhin nicht sprechen wollte oder konnte.

Viele ältere Menschen betreuen ihre Ehefrauen oder Ehemänner bis zum physischen und psychischen Limit, weil sie ihnen vor Jahrzehnten versprochen hatten, einander beizustehen, «bis dass der Tod Euch scheidet». Eine Heimeinweisung kommt daher für diese Angehörigen nicht in Frage. Lösung?

Der Gedanke von vielen ist: «Für mich gibt es nur eines: Ich bleibe immer in meiner Wohnung, dieser Wunsch steht über allem!» Der Gedanke, das eigene Heim, das eigene Zuhause verlassen zu müssen, scheint unerträglich. Es gibt einige wenige Angehörige, die bereit und auch fähig sind, ihr Leben auf das Leben des erkrankten Partners, der erkrankten Partnerin, vollumfänglich bis zum Tod einzustellen.

Doch ich frage mich, ob sich Menschen mit Demenz ab einem gewissen Stadium in ihren eigenen vier Wänden wirklich noch zu Hause fühlen. Es kommt zu einer Entfremdung, zu einer Desorientierung im eigenen Zuhause: Die eigene Küche kann als fremd empfunden werden, Erinnerungsstücke können nicht mehr richtig eingeordnet werden.

Es ist wichtig, dass Angehörige Schuldgefühle abbauen können.
Autor: Irene Bopp-Kistler

«In guten wie in schlechten Tagen», dieses Versprechen kann zu einer Hypothek werden. Etwa ein Drittel der Angehörigen entwickeln im Verlauf einer Demenzbetreuung eine Depression. Angehörige sind zudem gefährdet, vermehrt an Infektionskrankheiten zu erkranken. Es ist wichtig, dass Angehörige Schuldgefühle abbauen können. Von niemandem kann und darf erwartet werden, dass er sein Leben und viele Freundschaften aufgibt, um einen Menschen über 10 Jahre und länger rund um die Uhr zu betreuen.

Demenzerkrankte können sich ab einem gewissen Stadium tatsächlich in einem Heim besser fühlen und weniger Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Nach einer Heimeinweisung können gemeinsame Zeiten wieder stressfrei und intensiver möglich werden. Dies in einem Gespräch aufzuzeigen, kann entlastend wirken.

Dennoch: Der Übertritt ins Pflegeheim ist oft für die Partner schwieriger als für die Demenzerkrankten, es ist ein Prozess des schmerzlichen Abschiednehmens.

Demenz ist ein «Tod in Raten», eine Verabschiedung von der bekannten Person geschieht oft bereits vor dem tatsächlichen Tod. Was bedeutet dieser endgültige Tod für die Angehörigen?

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Irene Bopp-Kistler ist Gast in der Sendung «Club» vom Dienstag, 19. April, zum Thema Demenz: Leben mit dem grossen Vergessen. SRF 1, 22:15 Uhr.

So schwer die Trauer über viele Jahre ist, so erlösend kann der Tod sein, und die Trauer danach ist vielfach leichter als bei anderen Todesfällen. Dann steht das Tröstliche, das gute Sterben im Vordergrund, die Erlösung vom Schweren. Die Angehörigen erinnern sich danach auch an das Leichte, an die lichten Momente. Für andere Angehörige beginnt aber nochmals ein intensivster Trauerprozess, da regelmässige Begegnungen mit dem geliebten Partner im Pflegeheim wegfallen und die Einsamkeit noch mehr in den Vordergrund tritt.

Nach dem Tod beginnt die Phase der Neuorientierung. Um nochmals Träume zu verwirklichen, die zurückgestellt wurden, braucht es eine Zeit der Verarbeitung, bis wieder etwas Neues wachsen kann.

Gibt es überhaupt eine Sinnhaftigkeit angesichts einer Demenzerkrankung?

Die Erkrankung betrifft genau den Bereich, der uns so wichtig ist: unser Denken und unsere Persönlichkeit, weswegen sich die Frage stellt, ob ein solches Leben noch Sinn macht.

Der Sinn des Lebens wird meist damit verknüpft, ob das Leben dem entspricht, was wir von ihm erwarten. Wenn man Sinn so definiert, dann hat das Leben mit Demenz tatsächlich wenig Sinn. Es könnte aber auch darum gehen, dass wir fähig werden, in jeder Situation, die uns schicksalshaft gegeben wird, nicht aufzugeben – wir alle sind Suchende. Der Sinn des Lebens ist nicht allein durch Hirnleistung bestimmt, sondern durch die bewusste Wahrnehmung jedes einzelnen, einzigartigen Moments.

Der Sinn des Lebens ist nicht allein durch Hirnleistung bestimmt, sondern durch die bewusste Wahrnehmung jedes einzelnen, einzigartigen Moments.
Autor: Irene Bopp-Kistler

Eine Angehörige schreibt während des Sterbensprozesses ihres Ehemanns: «Ja, da sehnt man sich manchmal nach dieser Zeit und wenn sie da ist, ist es auch wieder zu früh. Doch, im Moment haben wir einfach ZEIT zum Dasein!» Leben besteht aus dem ständigen Prozess des Loslassens. Betroffene und ihre Angehörigen sind gezwungen, immer wieder Loszulassen. In diesem Prozess des Loslassens sind sie uns voraus.

Aus mir ist also keine Mathematikerin geworden, doch die Mathematik hat mir geholfen bei der Suche, Zusammenhänge und Widersprüche einzuordnen. Als Ärztin begleite ich Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen auf der Suche nach Antworten, auch in Momenten, da die Sinnhaftigkeit des Lebens in Frage gestellt wird.

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