Kathrin Lehmann war Stürmerin im Eishockey und Goalie im Fussball. Die 44-Jährige ist im Besitz des höchsten Goalietrainer-Diploms und erklärt im Interview, warum sich Nationaltrainerin Pia Sundhage noch nicht auf eine Nummer 1 festgelegt hat.
SRF Sport: Pia Sundhage hat noch keine Nummer 1 bestimmt. Woran könnte das liegen?
Kathrin Lehmann: Das hat verschiedene Gründe. Einerseits ist sie noch nicht lange im Amt und braucht noch etwas Zeit, um die Goalies kennenzulernen. Zum anderen hat sie nun Nadine Angerer verpflichtet, die nun sozusagen Chefin der Goalies ist. Da macht es Sinn, ihre Meinung abzuwarten.
Sind denn Livia Peng und Elvira Herzog gleich gut oder warum kann man nicht einfach eine Nummer 1 bestimmen?
Sie sind auf Augenhöhe. Obwohl sie ganz unterschiedliche Goalie-Typen sind, befinden sie sich in einer ähnlichen Phase in der Bundesliga. Livia Peng hat sich die Nummer 1 bei Werder Bremen erarbeitet. Sie hat sich nun etabliert. Jetzt beginnt erst die Entwicklung. Elvira Herzog hat sich bei Leipzig, das erstmals in der 1. Bundesliga spielt, durchsetzen können. Und sie hat mit Michael Gurski einen sehr spannenden Goalie-Trainer.
Wann wird sich Sundhage entscheiden?
Ich gehe nicht davon aus, dass Sundhage eine schnelle Entscheidung treffen wird, sondern die EM-Quali braucht, um diese wichtige Entscheidung im Hinblick auf die Heim-EM 2025 zu treffen. Es bleiben bis im Juli ja 6 Länderspiele und im Sommer muss man die Situation neu analysieren. Sich jetzt schon festzulegen, ist daher nicht nötig.
Yann Sommer kommt auf 88 Länderspiele, Mvogo auf 8 und Kobel auf 5. Das ist ein riesiger Fehler und darf eigentlich nicht passieren.
Haben wir im Frauen-Nationalteam wie bei den Männern ein Luxus-Problem oder eher einen Mangel an Top-Keeperinnen?
Peng und Herzog sind noch nicht internationale Top-Shots, sie sind auch noch sehr jung. Sie können aber zu grossen internationalen Goalies reifen. Eine Luxus-Situation wie bei der Männer-Nati mit Yann Sommer, Gregor Kobel und Yvon Mvogo haben wir sicher nicht. Ich glaube, das wurde hinter Gaëlle Thalmann etwas vernachlässigt.
Inwiefern?
Es kann nicht sein, dass die Nummer 1 über 100 Länderspiele hat und die Nummer 2 oder 3 weniger als 10. Man hat vergessen, zwischendrin etwas zu machen, bei den 25- bis 30-Jährigen. Das betrifft in der Frauen-Nati nicht nur die Goalies. Ein ähnliches Problem haben wir übrigens auch bei den Männern. Yann Sommer kommt auf 88 Länderspiele, Mvogo auf 8 und Kobel auf 5. Das ist ein riesiger Fehler und darf eigentlich nicht passieren. Die Nummer 2 muss mindestens 20 bis 30 Länderspiele auf dem Konto haben.
Es passieren viel mehr Weitschüsse als vor 3 Jahren, aber das Goalie-Spiel hat sich durch das separierte Training nicht so entwickelt wie das Feldspiel.
Mit Nadine Angerer hat der Verband einen grossen Namen verpflichtet. Was kann sie konkret bewirken?
Sie ist ein Riesenfang für den Schweizer Frauenfussball und kann sehr viel einbringen. Was sie alles gewonnen und erlebt hat, hat auf einer Seite Papier gar nicht Platz. Somit kann sie Peng und Herzog unglaublich viel mitgeben. Alle schauen nun auf Angerer, so können sie sich in ihrem Schatten entwickeln.
Schaut man Spiele der Women’s Super League, so machen die Goalies oft keine allzu gute Figur. Das Niveau ist nicht vergleichbar mit der internationalen Klasse. Besteht da Nachholbedarf im Nachwuchsbereich?
Ja. In der Schweiz muss man sich die Goalie-Position genau anschauen. Denn das Spiel im Feld hat sich bei den Frauen in den letzten 5 Jahren exorbitant verändert in punkto Dynamik, Geschwindigkeit und Spielwitz. Es passieren viel mehr Weitschüsse als vor 3 Jahren, aber das Goalie-Spiel hat sich durch das separierte Training nicht so entwickelt wie das Feldspiel. Das gilt übrigens auch für den Junioren- und den Männerfussball.
Was müsste sich ändern?
Die Schweiz hat eine super Goalie-Ausbildung. Aber bei den Frauen war sie in punkto Taktik stets auf das Basissystem des 4-4-2 im Herrenfussball orientiert. Es ist also eine rein taktische Geschichte. Ich muss als Torhüterin einerseits wissen, wie ich mich auf Distanzschüsse oder den tiefen scharfen Ball einzustellen habe und wie ich meine Abwehr gegen pfeilschnelle Gegenspielerinnen ausrichten muss.
Wo bestehen die grössten Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Goalies?
Die koordinativen Fähigkeiten sind auf dieser Position sehr stark gefordert. Das heisst: Orientierung, Gleichgewicht, Rhythmisierung, Differenzierung und Reaktion. Eines ist klar: Frauen haben ein weniger gut entwickeltes Orientierungsgefühl. Also müsste ihr Training zu 80 Prozent in diesem Bereich stattfinden. Dafür sind sie betreffend Rhythmisierung klar im Vorteil.
Das Gespräch führte Dominik Steinmann.