Oblique Seville zeigte nach dem Sturm auf den WM-Thron seinen muskelbepackten Körper, auf der Tribüne ballte der begeisterte Usain Bolt beide Fäuste: Zehn Jahre nach Bolts letztem WM-Titel ist wieder ein Jamaikaner der König aller Sprinter. Der 24-jährige Seville sprintete bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Tokio in 9,77 Sekunden zu Gold über 100 m und führte einen Doppelsieg vor seinem Landsmann Kishane Thompson an.
«Yes, Yes!», schrie Bolt, der auf der Tribüne im japanischen Nationalstadion mitgefiebert hatte. Der Stadion-DJ spielte Bob Marleys «Buffalo Soldier», während auch zahlreiche jamaikanischen Fans vor Freude jubelten. Zuletzt war WM-Gold nach der Ära des Weltrekordlers viermal in Serie an die USA gegangen.
Bolt sah es kommen
Bolt hatte sich schon vor den Wettkämpfen absolut überzeugt geäussert – und sollte Recht behalten. «Kishane und Oblique haben in dieser Saison wirklich gezeigt, dass sie extrem gut in Form sind», hatte der 39-Jährige gesagt und ordentlich Druck gemacht: «Sie sollten die Plätze eins und zwei belegen, denn sie haben während der gesamten Saison bewiesen, dass sie an der Spitze stehen und schnelle Zeiten laufen. Es kommt also nur auf die Umsetzung an.»
«Es fühlt sich grossartig an. Ich habe bewiesen, dass ich ein Champion bin. Über die Jahre habe ich auch immer wieder bewiesen, dass ich ein Medaillen-Kandidat bin», sagte Seville nach seiner persönlichen Bestzeit: «Jetzt habe ich es meinen Fans, meiner Familie und der Welt gezeigt: Ich bin der Champion.»
Seville verlor mit 17 Jahren seinen Vater
Seville galt schon vor seinem Coup als einer der konstantesten Sprinter der vergangenen Jahre – und als vielleicht grösstes Versprechen auf die Bolt-Nachfolge. Doch bislang hatte der Youngster die hohen Erwartungen nicht vollumfänglich erfüllen können. Bei den vergangenen beiden Weltmeisterschaften reichte es 2022 und 2023 nach vielversprechenden Auftritten jeweils nur für den vierten Platz, auch im olympischen Finale von Paris stand nach einem starken Halbfinale nur der letzte Platz.
Doch Seville, der mit 17 seinen Vater verlor, ackerte weiter, um seinem grossen Vorbild Bolt nachzueifern. «Nicht aufzugeben, erfordert ein gewisses Mass an Geduld», hatte er einmal gesagt. Diese wurde nun belohnt. Er beendete damit die 2017 gestartete US-Gold-Serie über 100 m. Damals schlug Justin Gatlin Bolt. Danach gewannen dessen Landsleute Coleman (2019), Fred Kerley (2022) und Noah Lyles (2023). Nun ist Jamaika zurück auf dem Sprint-Thron.