Sieben Jahre hat Caster Semenya gerichtlich gegen die vom Internationalen Leichtathletik-Verband World Athletics eingeführte Testosteron-Obergrenze gekämpft. Mit dem Urteil der grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR hat dieser Rechtsstreit ein vorläufiges Ende gefunden.
Der EGMR hielt fest, dass das schweizerische Bundesgericht den Entscheid des Internationalen Sportgerichtshofs TAS, der die Testosteron-Regelung stützte, im Lichte der von Semenya geltend gemachten Menschenrechtsverletzungen einer sorgfältigeren Prüfung hätte unterziehen müssen.
Ob die zweifache Olympiasiegerin über 800 m diskriminiert oder ihr Recht auf Privat- und Familienleben verletzt worden sei, beurteilte der EGMR aber nicht.
«Die feststellbaren Auswirkungen dieses Entscheids auf den Sport sind klein. Es wird keine fundamentalen Änderungen in der Sportgerichtsbarkeit geben», ordnet Sportjurist Stephan Netzle ein.
Gen-Tests statt Testosteronwerte
Auch an Semenyas Situation ändert sich nichts. Die Testosteron-Regelung hat nach wie vor Bestand und wird in Zukunft ohnehin ersetzt werden. World Athletics hat bereits im März die Einführung von Gen-Tests angekündigt.
Wer künftig bei den Frauen starten will, muss sich einmalig einem solchen Test unterziehen, um das biologische Geschlecht festzustellen.
Intersexuelle Menschen wie Semenya, die als Frau geboren und aufgewachsen ist, aber das männliche Chromosomenpaar XY besitzt, werden dann von der Frauen-Kategorie ausgeschlossen.
Fairness vs. Inklusion
Für Sebastian Coe, Präsident von World Athletics, ein Entscheid in die richtige Richtung: «Es ist sehr wichtig, dass wir alles unternehmen, um die Frauen-Kategorie zu schützen.» World Athletics ist also bestrebt, die Binarität des Sports zu zementieren.
Auch der leitende Verbandsarzt von Swiss Athletics, Patrik Noack, befürwortet Gen-Tests grundsätzlich: «Wenn die Tests korrekt durchgeführt werden, könnten sie die Lösung des Problems sein. Dann gibt es eine Kategorie mit genetisch reinen Frauen und eine ‹Open-Kategorie›.»
Das Problem für viele intersexuelle Athletinnen: In einer solchen offenen Kategorie wären sie aller Voraussicht nach chancenlos. Als Vergleich: Semenyas Bestzeit über 800 m liegt bei 1:54,25, der Schweizer Rekord von André Bucher bei 1:42,55.
World Athletics will vorwärtsmachen
Wenn es nach World Athletics geht, soll die neue Regelung bereits an der WM in Tokio im September zur Anwendung gelangen. Das sei zu früh, sagt Noack. Noch sei vieles unklar: «Von wem und wo werden diese Tests durchgeführt? Ab welchem Alter? Was passiert mit positiven Resultaten von Menschen, die keine erhöhten Testosteronwerte aufweisen?
Der nächste Rechtsstreit, in dem die Interessen an möglichst grosser Inklusion und an einem möglichst fairen Wettkampf gegeneinander abgewogen werden müssen, dürfte damit nicht lange auf sich warten lassen.
Semenya hat angekündigt, sie werde weiterkämpfen, solange es Ungerechtigkeit gebe. Das letzte Kapitel in dieser Geschichte ist auf jeden Fall noch nicht geschrieben.