Roman Schweizer, wie muss man diese Gold-Medaille von Giulia Steingruber in der Schweizer Turn- und Sportgeschichte einschätzen?
Roman Schweizer: Dieses Gold ist sehr hoch anzusiedeln. Man wusste schon lange, dass Giulia Steingruber am Boden und am Sprung stark ist. Aber sie mausert sich nun zu einer Mehrkämpferin und hat EM-Gold gewonnen. Das ist die Krönung, nachdem sie vor zwei Jahren den undankbaren 4. Rang belegt hat. Nun hat sie es gepackt – sensationell!
Giulia Steingruber hat einmal mehr bewiesen, dass sie an Grossanlässen mit Druck gut umgehen kann. Hat sie auch Lehren ziehen können aus der unglücklich verlaufenen WM von Nanning im letzten Oktober?
Auf jeden Fall. Giulia ist mittlerweile ein Routinier mit viel Erfahrung an Grossanlässen. Erwähnen muss man hier auch Cheftrainer Zoltan Jordanov. Er hat grossen Anteil an ihren Erfolgen und weiss mittlerweile genau, wie er sie auf einen Wettkampf einstellen muss. Gerade hier in Montpellier hat er das perfekt geschafft.
Ich habe mit Giulia nach dem Wettkampf gesprochen und sie hat gesagt, sie habe einfach Freude am Turnen und könne Tag für Tag nehmen. Sie lasse sich auch nicht mehr zu stark unter Druck setzen. In Nanning war das noch anders, sie wollte unbedingt auch einmal an einer WM medaillenmässig etwas erreichen. Von diesem Druck hat sie sich jetzt gelöst und prompt Gold geholt. Und ich bin überzeugt, sie wird auch am Weekend in den Gerätefinals so an die Sache herangehen.
Steingruber gehört auch in den Finals am Boden und am Sprung zu den Favoritinnen. Gibt Ihr diese Goldmedaille noch einen zusätzlichen Schub oder ist der Trubel nach dem Mehrkampf-Gold eher hinderlich?
Nein, nein, das wird nicht der Fall sein. Natürlich gibt es jetzt viele Termine und den Medienrummel. Aber Giulia ist ein Profi und sie kennt es, an drei Tagen hintereinander Finals turnen zu müssen. Sie wird am Abend abschalten und sich auf den Sprungfinal von Samstag einstellen können – die Mission Titelverteidigung. Sie ist die Favoritin, hat in der Qualifikation voll überzeugt und kann sich eigentlich nur selber schlagen.
Giulia Steingruber ist nun die Beste in Europa. Wo steht sie im weltweiten Ranking?
Kunstturnen ist eine weltumspannende Sportart, an einer WM nehmen 75 Nationen teil. Dominierend sind die Länder Asiens und vor allem auch die USA. Man muss ganz klar feststellen, dass an der nächsten WM in Glasgow zwei Amerikanerinnen im Mehrkampf vor Giulia Steingruber sein werden.
Giulia steht jetzt bei 57 bis 58 Punkten, die Amerikanerinnen und auch die Russinen können über 60 Punkte erreichen. Und das gilt auch für Athletinnen aus China oder Südkorea. Giulia ist zwar die Beste in Europa – aber an einer WM oder auch an Olympia in Rio wird es für die Medaillen im Mehrkampf eher knapp.
Aber man darf sich für Rio 2016 trotzdem leise Hoffnungen auf ein Edelmetall machen…?
Ja, ja, auf jeden Fall! Giulia zeigt im Moment in den Wettkämpfen noch gar nicht ihr komplettes Programm. Da gibt es noch viele schwierige Elemente, die sie im Training bereits beherrscht. Am Boden, am Balken und am Stufenbarren hat sie noch Potenzial, mit dem sie den B-Wert für die Schwierigkeit noch steigern kann. Sie wäre dann schnell einmal auf dem Niveau der Amerikanerinnen.
Etwas ausgereizt ist einzig der Sprung, für eine noch schwierigere Übung könnte die Zeit bis Rio etwas knapp werden. Aber im Ganzen gesehen bin ich sehr zuversichtlich.
Sendebezug: SRF zwei, sportlive, 17.04.2015, 13:55 Uhr